Top Referenten

Top Referenten

 


Programm 2024/25 (Planungsstand)



Termin Ort Top-Referent Vortragstitel
14.11.2024 19h Mainz Victoria Rietig Politologin, Berlin Migration und Asyl. Zwischen Fakten und Meinung
16.11.2024 19h Göttingen Prof. Dr. Ulrich Schlie Historiker, Bonn Deutsche und europäische Sicherheitspolitik auf längere Sicht
12.12.2024 19h Osnabrück PD Dr. Bastian Matteo Scianna Historiker, Potsdam "Sonderzug nach Moskau". Das Dilemma der deutschen Russlandpolitik
09.01.2025 19h Freiburg Dr. habil. Thomas Petersen Demoskop, Allensbach Das politische Klima im Jahr der Bundestagswahl
15.01.2025 19h Münster PD Dr. Antje Nötzold Politologin, Chemnitz Aktuelle Herausforderung der deutschen Außenpolitik
15.01.2025 19h Tübingen Prof. Dr. Andreas Knabe Ökonom, Magdeburg Die Zukunft der gesetzlichen und privaten Altersvorsorge: Probleme und Lösungen
15.01.2025 19h Aachen Prof. Dr. Elmar Erkens Ökonom, Berlin Vernetzung in Wirtschaft und Gesellschaft – Fluch oder Segen?
17.01.2025 19h Karlsruhe PD Dr. Thomas Petersen Demoskop, Allensbach Populismus in der Wahlkabine: Die politische Landschaft im Umbruch


Für die Teilnahme wenden Sie sich an topreferenten@ffs-ev.eu




Schonzeit vorbei



Vortrag des Historikers Prof. Dr. Ulrich Schlie, 16. November 2024


Wirtschaftlich auf Augenhöhe mit Amerika, an den entscheidenden Stellen aber ohne Einfluss, schon in der eigenen Nachbarschaft. Will es seine Interessen wahren, muss Europa strategischer Akteur werden. Die Bereitschaft dazu: dürftig. Analyse von Professor Schlie in Göttingen.

 

Dass die Welt im Fluss ist, gilt als Binsenweisheit, und, genauer hingesehen, stimmt sie natürlich; immer. Aber auf geopolitisch-diplomatischer Ebene gibt es durchaus Phasen der Stabilität; Ordnungen, die bestehen, verfestigen sich und halten oft Generationen. Utrecht 1713, Wien 1815, Jalta/Potsdam 1945. Änderungen bereiten sich vor, schleichend im Untergrund; irgendwann brechen sie hervor; Kriege sind Beschleuniger. Eine solche Phase erleben wir gerade, meint Professor Schlie; die alte Ordnung zerfällt, die neue ist noch nicht da.


Welche Gesetzmäßigkeiten dann gelten, wissen wir nicht; bloß dass es andere sein werden als die, die wir kennen; anders als die Abschreckungslogik des Kalten Krieges, anders als das Machtgleichgewicht des 19. Jahrhunderts. Auch: dass die jetzt schon ungenügenden Instrumentarien, regionale Bündnisse, die Vereinten Nationen mit Sicherheitsrat und Vetoregelungen, Konflikte allein nicht einhegen können. Sicher nur, sagt Schlie: dass die Karten von Macht und Einfluss neu gezeichnet werden.


Unsere Vorbereitung darauf? Unzureichend. Die deutsche nationale Sicherheitsstrategie, 2021 verabschiedet, sei eigentlich keine, beantworte wesentliche Fragen nicht, der nationalen Interessen, des Verhältnisses von Diplomatie und Militär, übersetze vor allen die Leitlinien nicht in operative Aufgaben. Strategiepapiere in Washington, Paris, London läsen sich anders; die strategische Kultur sei Deutschland abhandengekommen in langen Jahrzehnten scheinbar sicheren Friedens. Die allerdings sind längst vorüber. Nicht erst mit dem neuen amerikanischen Präsidenten.


An ein Ende der NATO glaubt Schlie übrigens nicht, auch unter Trump nicht, der aus rein rationalem Machtkalkül kein Interesse daran haben könne, Europa ernsthaft aufzugeben; nur eben, eine gerechtere Lastverteilung einzufordern, Vorteile zu erwarten in Handelsfragen und bei Waffenkäufen. Weiter auf Freundschaft mit Amerika zu setzen, das größer ist als ein einzelner Präsident, aber mehr Eigenständigkeit vorzuleben, so Schlies Empfehlung. Und bei der strategischen Neuausrichtung, auch der Militärausstattung, nicht wieder nur auf ein Szenario, diesmal das antirussische Containment, sich einzustellen. Denn alles bleibt im Fluss. Immer.





Schwierige Sache



Vortrag der Migrationsforscherin Victoria Rietig, 14. November 2024


Migration gilt unter Politikern als heißes Eisen, kontroverse Debatten produzieren aber noch keine scharfe Analyse oder gar pragmatische Lösungen. Was wirklich hilft und was nicht – darum ging es beim Workshop der DGAP-Expertin Victoria Rietig in Mainz.

 

Neu ist das Thema wahrlich nicht; rangiert in Umfragen unter dem, was Wähler interessiert, schon seit zehn Jahren auf vorderen Plätzen, ungefähr schwankend mit den großen Zuzugswellen. Gemessen daran herrscht, immer noch, erstaunliche Ratlosigkeit; beim Publikum, bei den Politikern; unter Experten auch. Nicht einmal über Begriffe wird man sich einig. Ob die Obergrenze für Migration in Deutschland mittlerweile erreicht sei, war eine der Fragen des Abends. Was man einrechnet, Flucht, Arbeitsmigration, wo die Belastungsgrenze liegt, materiell, sozial, kulturell, bleibt in der Diskussion regelmäßig im Ungefähren, von persönlichen Wertungen bestimmt. Der Streit wird so zur Spiegelfechterei, ein simpler Arbeitskonsens unerreichbar.


Victoria Rietig wirbt für Pragmatismus. Migration nicht verhimmeln, nicht verteufeln, keinen falschen Aktionismus, keine Heilsversprechen, wo eigene Machtmittel endlich sind; aber auch nicht organisatorische Schwierigkeiten vorschützen, wo in Wahrheit bloß politischer Wille fehlt. Manches klingt einfach, „Druck auf Herkunftsländer“, „Fluchtursachen bekämpfen“; liegt im Großen aber außerhalb der Möglichkeiten deutscher Politik, die weder Dürren und Bürgerkriege anderswo beenden noch ferne Länder einfach zur Rücknahme unerwünschter Migranten zwingen kann.


Anzufangen wäre mit Tatsachen, soweit man sich auf sie einigen kann. Ein gutes Viertel der deutschen Bevölkerung, rechnet Rietig vor, hat mittlerweile „Migrationshintergrund“, also mindestens ein zugewandertes Elternteil. Migration findet statt; sehr lange schon. Zugleich hat sie sich beschleunigt; die Asylzuwanderung in der letzten Dekade neue Höhen erreicht, wenngleich sie zuletzt leicht zurückging, zumal diese Statistik eine Million ukrainische Kriegsflüchtlinge gar nicht erfasst. Integration, laut Rietig eine Frage von Geld plus politischem Willen, ist nicht starr begrenzt, ist auch trainierbar, erreicht aber fraglos irgendwann einen Kipp-Punkt, ab dem Probleme sich nicht mehr wegverwalten lassen.


Bei den Maßnahmen rät die Expertin zu schonungsloser Ehrlichkeit, was wirkt und was nicht. Grenzkontrollen zum Beispiel wirken kurzfristig – bis die Schleuser neue Routen finden, zumal die deutschen Landgrenzen sehr, sehr lang sind. Bald darauf steigen die Zahlen wieder an; es sei denn, man ist zu den berüchtigten Pushbacks bereit. Migrationsabkommen, wie einst mit der Türkei, mit Tunesien, wirken dagegen nachhaltiger auf die Zuwanderung, trotz des faden Beigeschmacks; Kooperation mit Autokraten, Missachtung menschenrechtlicher Mindeststandards außerhalb der Reichweite europäischer Gerichte. Bei „awareness campaigns“, die in den Herkunftsländern auf Gefahren der Flucht nach Europa hinweisen, bleibt, vorsichtig ausgedrückt, der Effekt noch zu beweisen.


Was wirksam wäre, und gar nicht von Dritten abhängig, sind grundlegende Reformen der innerdeutschen Zuständigkeiten, welche bislang zersplittert sind über Kommunen, Bundesamt und Polizei – „organisierte Desorganisation“, laut der Referentin. Rietig wirbt, effizienzhalber, für Zentralisierung beim Bund, mit einheitlichen Standards, einheitlicher Ausbildung. Empfiehlt das auch im Gespräch mit Politikern, die ihr Migrationszentrum berät. Kann sich freilich des Gefühls schwer erwehren, dass mühevolle Detailreform im anstehenden Wahlkampf eher nicht als Zugthema angesehen wird.




Programm 2023/24



Termin Ort Top Referent Vortragstitel
08.11.2023 München Dr. Konstantinos Tsetsos Politologe Sicherheitspolitische Herausforderungen für Deutschland und Europa
13.12.2023 Karlsruhe Dr. Ulrich Kater Ökonom Können sich Deutschland und Europa in der Welt wirtschaftlich behaupten?
23.01.2024 Hannover Prof. Dr. Julian Hinz Ökonom Deutschland und Europa im internationalen Handel: Stärken und Schwächen
25.01.2024 Hamburg Dr. Bastian M. Scianna Historiker Sonderzug nach Moskau? Die deutsche Russlandpolitik seit dem Ende des Kalten Krieges
30.01.2024 Osnabrück Julia Friedrichs Journalistin Working Class: Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können
17.04.2024 19h Münster Nico Lange Politikberater Die Zukunft der Bundeswehr
02.05.2024 19h Frankfurt Dr. Ulrich Kater Ökonom Können sich Deutschland und Europa in der Welt wirtschaftlich behaupten?
07.05.2024 20h Karlsruhe Dr. Tim Köhler Ökonom Das Rentensystem verstehen
31.05.2024 19h Bonn Dr. Rafael Seligmann Publizist Leben in Israel: 75 Jahre Krieg - und kaum Aussicht auf Frieden?
06.06.2024 19h Gießen Dr. Alexander Jehn Politologe Ein neuer Lern- und Erinnerungsort. Das ehemalige Notaufnahmelager Gießen
14.06.2024 19h Halle Dr. Christoph v. Marschall Journalist Was, wenn Trump zurückkommt? Vier Strategien, wie Deutschland sich wappnen kann
24.06.2024 19:30 h München Dr. Alexander Börsch Ökonom Die neue Geoökonomie: Wie Geopolitik die Globalisierung verändert



Globalisierung, nur anders



Vortrag des Ökonomen Dr. Alexander Börsch, 24. Juni 2024


Die geopolitische Lage verschiebt auch die weltweiten Handelsströme. Dass dauerhaft weniger im- und exportiert wird, hielt Chefvolkswirt Alexander Börsch beim Vortrag in München aber keinesfalls für ausgemacht.

 

Fernhandel ist nichts Neues. Phönizische Seefahrer, Karawanen auf der Seidenstraße, Dreieckshandel über den Atlantik – die ganze Geschichte der Neuzeit lässt sich, in Wellen, so erzählen. Distanzen schrumpfen, technikbedingt; Kompass, Sextant, Dampfschiff, Frachtcontainer, digitale Steuerung. Die Länder kommen sich näher, mal friedlich, mal nicht. "Der Schauplatz der Weltgeschichte hat sich erweitert: damit sind die Proportionen andere geworden, und ein Staat, der als europäische Großmacht eine Rolle in der Geschichte gespielt hat, kann, was seine materielle Kraft angeht, in absehbarer Zeit zu den Kleinstaaten gehören." Konstatierte ein deutscher Kanzler; schon 1891.

 

Politik, Machtpolitik, Geopolitik spielt immer mit hinein. Über viele Jahrzehnte allerdings standen die Winde günstig. Dr. Börsch zeigte die Wachstumskurve, Anteil der Exporte an der globalen Wirtschaftsleistung. 1960: knapp über zehn, 2008: über dreißig Prozent; verdreifacht also in zwei Generationen. Seither freilich: Stagnation und leichter Rückgang. Politische Konflikte, erwartete und tatsächliche, bremsen die Euphorie, gelten Unternehmensplanern inzwischen als größtes Risiko. Handelsbeziehungen sortieren sich neu, politische und ökonomische Blöcke durchmischen sich, G7, BRICS, G20, dazwischen viele Neutrale; "Blockfreie" hießen sie früher.

 

Nur hört die Globalisierung damit nicht auf. Sie ändert sich nur. Wo weniger Container fahren, wächst der Austausch digitaler Dienstleistungen. Rechnet man die ein, zeigte Börsch, relativiert sich auch das berüchtigte amerikanische Handelsdefizit. Nicht nur wachsen Zölle, Import- und Exportverbote; auch Verträge, die Handelshemmnisse abbauen, schließt man noch. Bloß nicht mehr, dem Anspruch nach, für die ganze Welt, wie einst mit GATT und WTO. Eher bilateral, "regional", wobei die Nähe nicht immer geographisch, oft auch politisch ist.

 

Wenn der Handel Europas mit China nicht mehr so stark wächst: mit Japan und Kanada tut er es. Nordamerika wächst enger zusammen, die Pazifikstaaten, vielleicht EU-Lateinamerika. Investitionen verteilen sich um. Dr. Börsch zeigte die Zahlen: Ein Viertel der deutschen Unternehmen plant noch Investitionen in China; je zwei Fünftel in den USA und Indien, beinahe so viele wie im eigenen Land. Die amerikanische Wirtschaft wächst, derzeit subventionsgetrieben. Indien legt demographisch zu mit einem großen Überschuss an Arbeitskräften, während China, wie Europa, schon wieder schrumpft.

 

Das Rad also dreht sich weiter, nur mit verändertem Moment. "Slowbalization" heißt nicht Deglobalisierung; bislang jedenfalls nicht. Ändern könnte das wohl ein großer Krieg. Den machen enge Handelsbeziehungen weniger wahrscheinlich, meinte Börsch; sicher verhindern können sie ihn nicht. Die Hauptrisiken bleiben politisch, nicht ökonomisch.



Der Dschungel droht



Vortrag des Journalisten Dr. Christoph v. Marschall, 14. Juni 2024


Trump ante portas? Nicht mehr auszuschließen. Wirklich vorbereitet wäre Europa darauf kaum. Hätte aber noch einige Möglichkeiten. Meint Amerika-Kenner Christoph von Marschall.

 

Umfragen, zumal amerikanische, sagen nicht viel aus fünf Monate vor einer Wahl. Entschieden, vorentschieden ist noch gar nichts. Die Europäer, die Deutschen, müssen vorläufig in Szenarien denken für die nächsten Jahre. Ein Szenario Trump 2.0 allerdings wäre keineswegs aus der Welt gegriffen. Von Marschall zeigte die Wahlkarte, schilderte das amerikanische Wahlsystem. Auf fünf umkämpfte Staaten wird es wohl am Ende ankommen; Arizona, migrationsgeplagt, Georgia im alten Süden, Wisconsin, Michigan, Pennsylvania in dem, was heute der Rostgürtel einer einst stolzen Industriemacht geworden ist. Nur drei dieser Staaten müsste Donald Trump für den Gesamtsieg gewinnen. Zuletzt führte er in allen.


Was in einem solchen Szenario käme? Die Abkehr Amerikas von der NATO; nicht formal vielleicht, aber faktisch. Einstellen, jedenfalls deutliches Zurückfahren der Ukraine-Hilfen, Streben nach einem raschen "Deal" mit Moskau. Und neue Handelsstreitigkeiten, prognostizierte v. Marschall. Alles schärfer als in Trumps erster Amtszeit. Weil die Lage ernster und er selbst erfahrener geworden ist; besser vorbereitet; umfassender beraten. Für die Europäer bedeutet das: sie brauchen Ellbogen. Nicht nur gegenüber dem Partner in Washington; überall dort, wo amerikanische "hard power" ihnen bisher die fehlende eigene ersetzt. Auch im Umgang mit den Autokraten dieser Welt.


V. Marschall rechnete die Zahlen vor. Deutschland alleine macht, mit einem Prozent der Weltbevölkerung, 4,3 % der Weltwirtschaftsleistung, einen noch größeren Anteil des Welthandels aus. Wir profitieren überproportional von regelbasierten Ordnungen, von Stabilität; zum Beispiel sicheren Seewegen. Leisten zu deren Verteidigung aber unterdurchschnittlich wenig. Wie der Rest Europas auch. Bei vergleichbarer Wirtschaftskraft macht Nordamerika siebzig Prozent der NATO-Militärausgaben aus, Europa nur dreißig. Und ist zudem kleinteiliger, weniger effizient, weniger schlagkräftig; dem viel, viel wirtschaftsschwächeren Nachbarn Russland etwa daher militärisch kaum gewachsen.


Außer sich den großen Knüppel bereitzuhalten, empfahl v. Marschall allerdings: mehr diplomatisches Geschick anstelle der Pose moralischer Überlegenheit. Mit dem neuen Präsidenten, wäre es auch der unbequemere, trotzdem so gut als möglich auszukommen versuchen; zur Partei, zu den Bundesstaaten konstruktiven Kontakt halten. Und: Verbündete suchen. Handelsabkommen voranbringen, etwa Mercosur mit Lateinamerika; sie nicht überfrachten mit humanitären, umweltpolitischen Forderungen, die zu viel zu lang verzögern. Auch: Die Nähe suchen zu den Demokratien in Asien, am "neuen Westen" bauen, der nicht mehr geographisch, sondern nach Ideen vermessen wird.


"Realpolitisches Selbstvertrauen", meinte v. Marschall, sei nach wie vor angebracht; der Systemvorteil der Freiheit, Widerspruch als Fortschrittsmotor zu begreifen statt als Angriff auf die Autorität, immer noch ein wesentlicher. Einen kleinen Weckruf allerdings brauche es ab und zu. Was im November droht, könnte schon ein solcher sein.


Haltung ersetzt keine Bildung



Vortrag des Historikers Dr. Alexander Jehn, 8. Juni 2024


Demokratie lebt von freien Bürgern, die selbstbestimmt leben; gestalten, nicht gestaltet werden. Bildung zu diesem Zweck soll ertüchtigen, nicht erziehen, und geistige Grenzen eher überwinden als errichten. So der Direktor der hessischen Landeszentrale für politische Bildung beim Vortrag in Gießen.


"Demokratie ist anstrengend", begann Dr. Jehn seine Ausführungen. "Sie setzt das Denken voraus." Braucht Übung; braucht Bildung. Was, vor allem, im Dialog entsteht; durch Sprachverlust, Diskursverweigerung erschwert wird. Offenheit, Gesprächsbereitschaft erhalten, zwischen Stadt, Land, Jung, Alt, Links, Rechts und wo immer Bruchlinien liegen mögen; niemanden vorschnell aufgeben; nicht Perfektion erwarten, wo es keine geben kann – das wären Haltungen, die der Referent empfahl. Und zu denen er einen Beitrag leisten möchte.


Jehn sprach im speziellen über eine Gedenkstätte in seiner Verantwortung. Das Land Hessen unterhält einige, sehr unterschiedlich frequentierte; von dreitausend bis über hunderttausend Besuchern im Jahr reicht die Spanne. Relativ neu ist das ehemalige Notaufnahmelager im Gießener Meisenbornweg, das gerade zum Lern- und Erinnerungsort umgestaltet wird. Vor 1990 diente es als Anlaufpunkt für DDR-Flüchtlinge, die in den Westen übersiedeln wollten. In der Migrationskrise ab 2015 kam es noch einmal in Verwendung.


Was Gedenkstätten leisten können? "Sie können emotionalisieren", meint Jehn; durch konkrete Anschauung die Besucher auf einer mehr als nur kognitiven Ebene ansprechen; zu einer tieferen Lernerfahrung führen. Wozu sie mehr sein müssen als alte Mauern, bestückt mit Vitrinen. Gerade die Digitalisierung birgt für Jehn große Chancen, kann mit Bildern Vergangenes lebendig machen. Durch Projektion von Menschen in Räume, die sie einst bewohnten. Durch Filme von Zeitzeugen, wofür, je nach Thema, die Zeit schon fortläuft oder fortgelaufen ist.


Die Gießener Gedenkstätte soll mehrere Geschichten erzählen. Die der Ankommenden, natürlich. Des Systems, aus dem sie kamen, von der Praxis des Menschenhandels, Freikauf gegen Devisen, das die DDR-Regierung lange Zeit betrieb; für Jehn, zugespitzt, eine Form von Teilzeitsklaverei. Und die Geschichte der westdeutschen Gesellschaft, die, in diesem Fall, im Ganzen eine der Aufnahmebereitschaft und erfolgreichen Integration ist. Mit Hürden, mit Fehlern, mit allen Grauschattierungen der realen Geschichte.


"Demokratie ist kein Tempel und kein Denkmal", schloss Jehn seinen Vortrag. Demokratie ist lebendig, wird von Menschen gestaltet, die immer fehlbar sind, aber immer auch lernen können; wenn sie wollen. Denen, die wollen, als fähiger Dienstleister bereitzustehen, wäre eine mögliche Aufgabenbeschreibung für politische Bildung.


Israel und der freie Westen



Vortrag des Publizisten Dr. Rafael Seligmann, 31. Mai 2024


Der deutsch-israelische Autor sprach in Bonn zum Thema "Leben in Israel: 75 Jahre Krieg – und kaum Aussicht auf Frieden"; sah in der Selbstverteidigung Israels jedoch vor allem ein Beispiel für den Selbstbehauptungskampf der westlichen Welt insgesamt.


Dr. Seligmann stellte zunächst seinen Vortrag in einen größeren Zusammenhang: Auch in Europa herrscht Krieg, Russland hat die Ukraine überfallen. Weltweit sehen wir Mächte in Auseinandersetzungen, die Krieg bedeuten oder zu Kriegen führen können.


Der Iran mit seinen 90 Millionen Einwohnern will Israel vernichten, rüstet auf und finanziert seine Stellvertreter Syrien, Hisbollah sowie die Huthi und hat Israel auch schon direkt mit Raketen angegriffen. China äußert die feste Absicht, Taiwan militärisch zu erobern und macht diesen Willen in Manövern deutlich. Nordkorea bedroht Südkorea und liefert Waffen an Russland. Es ist also die Frage zu stellen, wie sich die Europäer angesichts dieser Aggressionen gegen die freie Welt fühlen und was sie zu tun gedenken. Putin habe klar gesagt, dass er den Zerfall der Sowjetunion für das größtmögliche Unglück des 20. Jahrhunderts hält und daran arbeitet, die ehemalige Einflusssphäre Russlands wiederherzustellen. Diese ging aber bis zur Elbe, das möge man bedenken.


In Israel leben die Menschen auf der einen Seite ganz normal, das Land steht wirtschaftlich gut da, aber die ständige Bedrohung ist ebenso präsent, der Wehrdienst für Frauen und Männer ist lang. Die große Mehrheit der Bevölkerung will Frieden in der Region, ist zu Zugeständnissen bereit, lehnt aber Unterwerfung ab. Man lebt in einer ständigen Angst. In keinem Land werden mehr Antidepressiva geschluckt.


Die Israelis befinden sich seit der Staatsgründung 1948 im Krieg, haben die Waffengänge bisher zwar für sich entschieden, wissen aber nicht, wie es weitergeht. Der Versuch, ehedem im Rahmen des Oslo-Prozesses einen Ausgleich mit den Palästinensern zu schaffen, ist am Veto arabischer Staaten gescheitert. Aber auch israelische Regierungen haben Fehler gemacht, allen voran Netanjahu. Dennoch besteht die Hoffnung, dass sich die neuerliche positive Entwicklung im Verhältnis zu arabischen Staaten trotz des Gaza-Krieges werde fortsetzen lassen. Israel könnte der wirtschaftliche Motor der ganzen Region werden.


Die weltweite Stimmung, so der Referent, richte sich derzeit stärker denn je gegen Israel. Die Boykottbewegung BDS gewinne an Einfluss, Israel werde gegen jede Vernunft als Kolonialmacht und Völkermörder dargestellt, das Massaker an Israelis vom 7. Oktober finde allerorts Rechtfertiger. In islamischen Gesellschaften gelten die Juden vielfach als Urheber aller Krisen. Aber auch in Deutschland können Juden nicht mehr frei und sicher leben, viele orientieren sich daher derzeit eher nach Polen. Dass die starke Einwanderung aus arabischen Ländern auch eine Einwanderung von Antisemiten und Israelhassern bedeutet, werde im Land des Holocausts unterschätzt.


In der Diskussion ging es am Ende nochmals um die Haltung Deutschlands und des Westens angesichts der vielfältigen Bedrohungen. Der Referent meinte, die politische Bestandsaufnahme müsse ehrlicher ausfallen, es sollten die Pflichten gegenüber der Zukunft klarer gesehen werden, es gelte, aktiver für die freiheitliche Gesellschaft einzutreten, zum Beispiel durch ein verpflichtendes soziales Jahr, Wehrdienst eingeschlossen. Zur wirtschaftlichen Kraft der westlichen Staaten müsse die feste Entschlossenheit dazukommen, Demokratie und Freiheit zu verteidigen. Er sei optimistisch, dass das am Ende gelingen werde.


Verschenkte Jahre



Vortrag des Ökonomen Dr. Tim Köhler, 7. Mai 2024


"Die Rente ist sicher." Bloß in welcher Höhe? Rentenökonom Köhler fand am Umlagesystem manchen Vorzug und manche Schwäche; viele verpasste Chancen, aber einige auch, die noch bleiben.

 

Man kennt die biblische Geschichte von Joseph dem Seher, welcher dem ägyptischen Pharao prophezeite, auf sieben Jahre reichte Ernten würden sieben Jahre Dürre folgen; weshalb der Herrscher Kornspeicher bauen und Vorräte anlegen lassen solle. Dieses Spiel, meinte Dr. Köhler in Karlsruhe, beobachte man mit verteilten Rollen auch heutzutage; Rentenökonomen sind die Seher, der Pharao "die Politik", was die Politiker meint wie auch die Wähler. Die Kornernte ist die Demographie. Der wesentliche Unterschied allerdings ist: diesmal hat der Pharao zu Joseph "nein" gesagt. Und die sieben fetten Jahre sind bereits vorüber.


Die letzten Jahre – genauer: etwa zwanzig – waren tatsächlich vergleichsweise gute für die deutsche Rentenkasse, sogar etwas besser als vermutet. Dr. Köhler führte die Zahlen vor; der Beitragssatz blieb stabil oder sank, liegt mit 18,6 % nur minimal über dem Niveau von 1983 (18,5 %), deutlich niedriger als in den 1990er Jahren, als Lasten aus der Wiedervereinigung zu tragen waren. Auch der Bundeszuschuss – eine staatliche Teilfinanzierung gibt es seit der Bismarckzeit – bewegt sich stabil bei einem knappen Viertel. Der Grund dafür: Die Arbeitsmarktentwicklung war positiv, und noch sind die starken Jahrgänge überwiegend beruflich tätig. Das Ende allerdings ist absehbar. 1964 war die Geburtenzahl am höchsten; bei 67 Jahren liegt der reguläre Renteneintritt. Ende der 2020er wird das Verhältnis langsam kippen und 2031 ein negativer Höhepunkt erreicht sein.


Es ist nicht so, dass nichts geschehen wäre. Zur Schröderzeit noch Einstieg in die Riesterrente, die allerdings inzwischen halbtot daliegt; neuer demographischer Faktor in der Rentenformel, langsames Absenken des Rentenniveaus. Dann, unter neuer Regierung, Erhöhung des Eintrittsalters um zwei Jahre. Später aber wieder manches in der Gegenrichtung, eklektisch, klientelistisch; Rente ab 63, Mütterrente I und II, doppelte Haltelinien, von denen absehbar war, dass sie nicht zu halten wären. Es ist auch nicht so, dass die Rentner überversorgt wären. Köhler rechnete vor, verglich die theoretische Standardrente, die bei Durchschnittslohn über die ganze Erwerbsbiographie anfiele, mit der realen Durchschnittsrente, die faktisch bei einem Drittel des Lohnniveaus liegt, und der Median, der Ausreißer ausblendet, noch einmal darunter. Die Renten sind über zwei Jahrzehnte schwächer gestiegen als das Bruttoinlandsprodukt, obwohl die Rentnerzahl zunahm.


Was wäre zu tun? Vom aktuell diskutierten Rentenpaket hielt Köhler wenig; das Generationenkapital, das bis 2036 angespart werden soll, sei kaum mehr als ein Placebo, und die neue einseitige Haltelinie von 48 % Niveau der Standardrente bewirkte entweder eine deutliche Beitragssteigerung, gegen die massiver Widerstand vor allem der Arbeitgeber zu erwarten sei, oder einen Zuschuss aus Steuermitteln von künftig einem Drittel des Bundeshaushalts – neben allen anderen Herausforderungen, Verteidigung, ökologischer Transformation. Gegen Ende des Jahrzehnts drohen heftige Verteilungskämpfe. Die solange dauern werden, wie die starken Jahrgänge Rente beziehen und die demographische Kurve nicht deutlich abflacht.


Stattdessen empfahl Köhler eine Akzentverschiebung: weg von der Rente als Lebensstandarderhaltung hin zum Mittel gegen Altersarmut. Mehr soziale Umverteilung also innerhalb des Rentensystems, Abkehr vom Äquivalenzprinzip, das Auszahlungen eng an Beiträge bindet, Einführung einer echten Mindestrente wie in anderen europäischen Ländern, dazu verpflichtende betriebliche und private Vorsorge. Mit dem Gerechtigkeitsargument, dass statistisch, wer ärmer ist und weniger Beiträge zahlt, auch kürzer lebt und Rente bezieht; und dass etwa die Krankenkassen auch nicht nach einem Äquivalenzprinzip funktionieren.


Es geht nicht ohne Wertentscheidungen



Vortrag des Ökonomen Dr. Ulrich Kater, 2. Mai 2024


Nicht erst, wenn man Umwelt- und Glücksindikatoren hinzunimmt, schon der harte, geldorientierte Kern der Volkswirtschaft funktioniert subjektiv. Ökonomie ist keine Naturwissenschaft und wird nie eine werden – erklärte Ökonom Kater beim Vortrag in Frankfurt.

 

"Wirtschaft ist zu fünfzig Prozent Psychologie." Der Satz wird Professor Ludwig Erhard zugeschrieben; könnte auch noch älter sein. Ökonomie operiert nicht nur mit objektiven Zahlen, sondern mit subjektiver Erwartung, aus der erst Handeln folgt, das sich dann in Zahlen niederschlägt. Was die Menschen erwarten, hängt aber stark von Stimmungen ab. Deshalb bewirkt je nach Lage Gleiches nicht Gleiches. Dr. Kater verglich in seinem Vortrag in Frankfurt zwei Inflationsschocks; den nach der Ölkrise in den 1970ern und den nach dem Ukrainekrieg fünfzig Jahre später. In den 1970er Jahren mussten die Zentralbanken ihre Zinsen auf zwanzig Prozent heraufschrauben, um die Teuerung auf ein akzeptables Maß zu senken; heute genügen dazu vier bis fünf Prozent. Warum? Weil die Inflationserwartung, die selbst ein Inflationstreiber ist, nach 2022 verblüffend niedrig lag; drei Prozent auf fünf Jahre, zweieinhalb auf zehn Jahre. So dass die gefürchtete Lohn-Preis-Spirale kaum in Gang kam. Woraus die Erwartung sich aber speiste, geht über das Feld der Ökonomie hinaus.

 

Auch nationale Standortstrategien, wenn die Politik sie hat, beschränken sich nicht auf volkswirtschaftliche Wohlstandsindikatoren. Deutschland fürchtet die Deindustrialisierung. Einerseits mit Recht; Energiepreise, Fachkräftelücke, Reglementierung und träge Verwaltung wirken schon sichtbar. Anderseits, sagt Kater, zu Unrecht. Deutschland hat noch zwanzig Prozent Rest-Industrieanteil am Bruttoinlandsprodukt; Frankreich zwölf, England neun, Amerika neun, und leben dennoch. Auch mit geringerem Industrie- und höherem Dienstleistungsanteil lässt sich Wohlstand erhalten. Allerdings verteilt er sich anders. Industrieproduktion schafft vergleichsweise viele gutbezahlte Arbeitsplätze auch bei mittlerer Ausbildung; Dienstleistungen differenzieren schärfer. Dass man die eingebaute soziale Dimension der Industriegesellschaft erhalten möchte, ist aber keine ökonomische Frage, vielmehr eine von Mentalität und Sozialpsychologie.

 

Die beeinflusst auch Anlageformen, Katers eigentliches Spezialgebiet. Rund sechzehn Billionen Euro Vermögen haben die Deutschen, viermal das Bruttoinlandsprodukt; die Hälfte in Immobilien, die Hälfte in Geld. Wobei vierzig Prozent der Bürger qua Einkommen gar nicht sparen können; entsprechend ungleich verteilt es sich. Der Kapitalmarktanteil aber ist durchgehend gering, die Deutschen sind börsenskeptisch, was das eigene und was das gesellschaftliche Vermögen angeht. Dass eine Aktienrente, anders als anderswo, nie politische Mehrheiten fand, man immer noch sehr überwiegend auf das Adenauersche Umlagesystem vertraut, lässt sich auch daraus erklären. Aus den Zahlen, mittleren Renditen über Zehn-, Fünfzehnjahreszeiträume, lässt es sich nicht ableiten. Da gewinnen die Aktien immer. Und die demographische Krise, die auf das Umlagesystem zurollt, ist seit vierzig Jahren absehbar.

 

Ökonomie funktioniert nicht nur nach Zahlen, Entscheidungen werden geprägt von Wertvorstellungen. Die ändern sich nur im Diskurs. Vertrauen auf die eigenen inneren Grundwerte, lebendige Debatte, mehr politische Erzählkompetenz – das war in der Bankenstadt diesmal Dr. Katers eigentlicher Wunsch.


Radikale Einschnitte



Vortrag des Politikberaters Nico Lange, 17. April 2024


Finanznot, allgemeines Desinteresse, ahnungslose Zivilisten: für ihre mangelnde Einsatzfähigkeit macht die Bundeswehr gern externe Faktoren verantwortlich. Aber es gibt auch Handlungsbedarf in der Truppe selbst. Einen grundlegenden Kulturwandel fordert Nico Lange, einst Chef des Leitungsstabes im Verteidigungsministerium.

 

Der Gegensatz ist alt; alt wie das Militär selbst. "Das Feld der realen Thätigkeit für die Armee ist der Krieg; ihre Entwickelung aber, ihre Gewöhnung und ihr längstes Leben fallen in die Zeiten des Friedens." So der preußische General v. Moltke an die höheren Truppenführer, 1869, zwischen zwei Kriegen. Die heutige deutsche Bundeswehr ist eine Friedensarmee seit ihrer Gründung; und aus diesem Modus seither nicht herausgekommen. Auch durch die teils gewaltsamen Auslandseinsätze nicht; auch durch die "Zeitenwende" mit dem Waffengang zwei Flugstunden östlich nicht. Das Momentum, um "Kriegstüchtigkeit" herzustellen, sah Referent Lange bei seinem Vortrag in Münster fast schon verpasst.

 

Friedensarmee bedeutet: Selbstverwaltung, aufgeblähte Strukturen, langwierige Entscheidungsverfahren, verteilte, unklare Verantwortung, Theorielastigkeit, politisch geprägtes Denken auch in rein militärischen Fragen. Lange zählte Beispiele und Folgen auf. Den Überhang an Generalen, hohen Offizieren gegenüber den Stiefeln auf dem Boden. Unrealistische, unflexible Planungen. Verschlafen von Neuerungen, etwa im Bereich der Kampfdrohnen, stattdessen Abhaken jahrzehntealter Beschaffungslisten. Nicht zuzuordnende Verantwortung für das Gelingen oder Scheitern von Projekten, Nicht-Fördern von Eigeninitiative, Bevorzugen des unauffälligen Mittelmaßes. Mangel an realitätsnahen Übungen für den Ernstfall; übrigens bei den Zivilbehörden auch.

 

Was Lange vorschlug: radikale Einschnitte mit metrischer Präzision. Stäbe, Ministerialverwaltung auf ein Drittel des heutigen Umfangs zurechtstutzen; die alten Führungsoffiziere großteils in Pension schicken und die jüngere Generation sprungbefördern. "Auge auf den Ball", auf die operativen Aufgaben. Die Armee so schlank und effizient machen, dass sie mit ihren 180.000 Mann auskommen kann, weil es, realistischerweise, mehr kaum werden dürften. Nur dann werde zusätzliches Geld auch wirklich helfen. Keine Ablenkungsdebatten um ferne Visionen, etwa einer gemeinsamen europäischen Armee. Nicht verkämpfen, nicht verkünsteln.  Noch einmal Moltke: "Fester Entschluß und beharrliche Durchführung eines einfachen Gedankens führen am sichersten zum Ziel."

 

Politische Kraft, authentische Führung statt bloßen Taktierens wäre dafür allerdings vonnöten. Aufzubringen wohl nur in der großen Krise oder kurz nach einem Regierungswechsel. Ganz präzedenzlos allerdings nicht. Als Beispiel empfahl Lange den Sozialdemokraten Helmut Schmidt in der Nachrüstungsfrage.


Arbeit muss sich lohnen



Vortrag der Journalistin Julia Friedrichs, 30. Januar 2024


Nirgends grassiert die Unzufriedenheit so wie bei den "Working Poor", über die Sozial-, die Energiepolitik. Zu lange hat die neue Arbeiterklasse zu wenig am Wohlstandswachstum teilgehabt. Aber es gibt auch Hoffnungszeichen. Findet Autorin Julia Friedrichs.

 

Auch Historiker müssen sich umgewöhnen. Vieles, was sie traditionell als Quellen verwenden konnten, kommt aus der Mode. Briefe, Tagebücher, Papierakten. Dafür bringen neue Medien Neues. Für die achtziger Jahre, vor dem Internet, führt das Fernsehen. Wer die DDR-Zeit kennenlernen möchte, muss nur den "Polizeiruf" schauen; Sprache, Wohnen, Essen, Alltagssorgen, das alles kann studieren, wer aufmerksam hinsieht. Für die achtziger Jahre im Westen empfiehlt Julia Friedrichs andere Sendungen; "Schwarzwaldklinik", "Lindenstraße",  "Ich heirate eine Familie". Und kommt mit dem geschulten Blick auf die sozialen Belange. Eine Serie in München, ohne dass von Mietwucher und Wohnungsnot die Rede wäre; die Einverdienerfamilie als Normalfall, gleichwohl mit ausreichendem Einkommen; erlebter Aufstieg und der Optimismus, den erarbeiteten Wohlstand der Eltern noch zu übertreffen.


Die achtziger Jahre sind für Julia Friedrichs der Umschlagpunkt. Nachher geht es nicht "abwärts"; die Wirtschaft wächst, die Vermögen tun es auch. Aber nicht mehr für alle. Immobilien, Mieten verteuern sich; wer Wohneigentum besitzt, profitiert, das sind eher die oberen Schichten. Die unteren geben heute vierzig Prozent ihres Einkommens für das Wohnen aus, wo es um 1990 nur ein Viertel war. Die Vermögenskonzentration wächst und wird ohne staatliche Eingriffe weiterwachsen. Wer allein von seiner Arbeit lebt, kann Vermögen kaum bilden; der "Airbag für alle Unfälle des Lebens" fehlt. Die Ursachen? Manche regulatorischen, sagt Friedrichs, Flexibilisierung des Arbeitsrechts und des Kapitalmarkts zum Beispiel. Manche externen, lange Niedrigzinsphasen, zuletzt die hohe Inflation. Manche gesellschaftlichen, Vereinzelung, Schwächung der Gewerkschaften, die ähnlich schrumpfen wie Kirchen und Parteien. Und auch Angebot und Nachfrage. Die Ostdeutschen, die in der Folge der Wiedervereinigung auf den Arbeitsmarkt drängten, die Frauen, die nun überwiegend einer Erwerbsarbeit nachgingen, erhöhten das Angebot – und drückten so den Preis.


Diese Effekte allerdings stimmen Friedrichs auch verhalten optimistisch. Denn neuerdings gibt es Gegenbewegungen. Die Demographie macht Arbeitskräfte wieder knapp. Zuletzt sind deutlichere Lohnsteigerungen erkennbar. Die heutige "Working Class", die sich vorwiegend im Dienstleistungssektor bewegt, kann nicht so einfach wegautomatisiert werden; die KI-Welle dürfte eher die Büroangestellten treffen. Um ihre neue Marktmacht auszunutzen, müsste die Arbeiterschaft sich allerdings besser organisieren als bislang. Und der Staat nicht fortwährend die Anreize nehmen durch eine Mischung aus wegfallenden Sozialleistungen und hart steigender Steuerkurve in bestimmten Einkommensstufen. Das machen, sagt Friedrichs, andere besser, in Skandinavien zum Beispiel. Während der deutsche Staat vor allem die Lohnarbeit steuerlich belaste; Vermögen, Erbschaften dagegen im Mittel kaum.


Eine Frage der Prioritäten



Vortrag des Historikers Dr. Bastian Matteo Scianna, 25. Januar 2024


Hinterher ist man immer klüger. Zu naiv und kurzsichtig sei besonders die deutsche Russlandpolitik der letzten Jahrzehnte gewesen, wird nun gerne moniert. War das so, täuschte man sich über die Kreml-Regierung, machte sich Illusionen? Aus seinem laufenden Buchprojekt berichtet Historiker Scianna, Potsdam.

 

"Sonderweg" ist ein reichlich belasteter Begriff in der deutschen Historiographie. Scianna sprach bei seinem Vortrag in Hamburg lieber vom "Sonderzug"; darauf anspielend, dass die Adenauer-Delegation zu den großen Verhandlungen 1955 tatsächlich in einem Sonderzug nach Moskau fuhr. (Angela Merkel ebenso, nachdem sie in der DDR-Zeit einen Russisch-Wettbewerb gewonnen hatte.) Gab es ihn, politisch gesehen, den Sonderzug, die "special relationship" zwischen Bonn/Berlin und dem Kreml? Eine falsche Vertrautheit, naive Nähe?


Scianna untersucht die Quellen, soweit sie heute schon zugänglich sind, seit der Zeit der Wiedervereinigung. Für die Kohl-Ära findet er viel realistische Skepsis. Furcht vor Bürgerkriegen infolge des Zerfalls der Sowjetunion, Re-Russifizierung, Re-Nationalisierung; Furcht auch vor der Umkehrbarkeit laufender Prozesse, da der 2+4-Vertrag erst Ende 1991 bindend ratifiziert wurde, bis 1994 noch russische Truppen in Ostdeutschland standen. Skepsis auch, nach hoffnungsvollen Anfangsjahren, über Boris Jelzin, zu dem man freilich nur schlimmere Alternativen sah, Kommunisten, Radikal-Nationalisten. Streben nach Stabilisierung, daher die Scheckbuch-Diplomatie, die übrigens die Länder zwischen Russland und Westeuropa keineswegs vergaß. Und immer das Bemühen, falsche Triumphgesten, die Demütigung der Gegenseite zu vermeiden.


Die Schröder-Zeit sah, nach anfänglicher Kritik wegen Tschetschenien, nach Auseinandersetzungen um den Balkan, eine Annäherung, die aber laut Scianna keineswegs eine deutsche Spezialität war. Tony Blair aus England, Silviu Berlusconi aus Italien, Romano Prodi für die EU – sie alle suchten die Nähe zum frühen Putin, stellten Wirtschaftsinteressen voran. Den Wunsch nach Multilateralismus, nach Beinfreiheit in Zeiten stark hegemonialen Auftretens der Amerikaner, die Achse mit Paris und Moskau gegen den Irak-Krieg, der freilich die Mehrheit der Europäer auf der anderen Seite sah, das muss man sich speziell bei Schröder hinzudenken; ehe die eigentliche Kumpanei begann.


Für die langen Merkel-Jahre will Scianna ein endgültiges Urteil sich erst noch bilden. Sichtbar seien zwei Dinge. Eine – in der Tat seit Gründung der OSZE beobachtbare – besonders deutsche Neigung, Prozesse für wichtiger zu halten als Ergebnisse, was sich in Minsk I und II, den Ukraine-Verhandlungen nach 2014, deutlich gezeigt habe. Und dass eine deutlichere Abkehr von Russland, Abschreckung, Aufrüstung, asymmetrische Eindämmung, erhebliches politisches Kapital gekostet hätte, weil Mehrheiten nicht vorhanden waren in Parteien, Medien und Bevölkerung, wie Scianna anhand alter Umfragen vorführte. Um solches Kapital einzusetzen, besaß das Thema offenbar nicht genug Priorität; und andere Dinge kamen regelmäßig dazwischen – Finanzkrise, Eurokrise, Migrationskrise, Coronakrise. Dass die Einsicht nicht da gewesen, Putin falsch eingeschätzt worden wäre, glaubt Scianna nach den Quellen – schon ab 2004 – keineswegs. Hinreichend Handlung folgte daraus aber nicht.


Nicht verdammen als Ziel, nicht entschuldigen, aber verstehen – Sciannas Buch darf mit Spannung erwartet werden.



Keine Panik



Vortrag des Ökonomen Prof. Dr. Julian Hinz, 23. Januar 2024


Die Abhängigkeit Deutschlands vom Weltmarkt wird mitunter übertrieben. Entkopplung von politisch unzuverlässigen Staaten würde Zeit brauchen und einigen Wohlstand kosten. Aber der Untergang der deutschen Volkswirtschaft wäre es nicht, selbst im Falle Chinas. Meint Ökonom Julian Hinz aus Bielefeld.

 

Manchmal lohnt es sich, Statistiken zu lesen. Wie groß denn der Anteil Chinas am deutschen Import und Export sei, fragte Professor Hinz seine Zuhörer in Hannover. Die Zahl fiel erstaunlich niedrig aus. Sieben, acht Prozent, weniger als Frankreich, ungefähr so viel wie die Schweiz und Belgien zusammen. Im Welthandel gilt auch eine Art Gravitationsgesetz; China ist zwar groß, aber sehr weit weg. Für Russland lag die Zahl, vor Krieg und neuester Sanktionswelle, noch bei zwei Prozent, in einer Liga mit Ungarn.


Schätzungen, wonach ein „Decoupling“ von China zwei Fünftel des deutschen Wohlstands kosten könnte, fand Hinz vor diesem Hintergrund grotesk. Natürlich gibt es indirekte Effekte, Rohprodukte, die in Importe aus anderen Ländern einfließen. So wie z. B. Deutschland nur wenig Cobalt direkt aus dem Kongo importiert, mehr verarbeitetes aus Frankreich, was aber auch wegfiele, sollte die EU den Kongo sanktionieren oder umgekehrt. Doch auch solche Effekte haben Grenzen.


Eine Modellrechnung, die Hinz zeigte, geht, je nachdem, wie man die Flexibilitätsparameter einstellt, bei einem „harten Entzug“, sofortigen Totalboykott, von kurzfristig fünf bis sechs Prozent Verlust an Wirtschaftskraft aus und dauerhaft noch eineinhalb Prozent. Das ist nicht wenig; entspricht ungefähr der Weltfinanzkrise von 2007 bzw. den langfristigen Folgen, die England infolge des Brexits spürt. Liegt aber in Größenordnungen, die eine Volkswirtschaft überleben würde. Ersatzquellen für Rohstoffe kann man finden; konnte man beim russischen Gas; könnte man auch bei seltenen Erden, die so selten, rein nach dem Vorkommen, überhaupt nicht sind.


Womit Professor Hinz sich übrigens nicht dafür aussprechen wollte, eine Entkoppelung auch tatsächlich durchzuführen, von einzelnen Sektoren womöglich abgesehen. Als politischen Ratschlag gab er nur zu bedenken: Das Erpressungspotential der Gegenseite sollte man nicht überschätzen. Den Effekt möglicher eigener Sanktionen allerdings ebenso wenig. Panik ist nicht angebracht, auf keiner Seite.



Die steile Kurve


Vortrag des Ökonomen Dr. Ulrich Kater, 13. Dezember 2023


Milliarden hier, Billionen dort; den vielen Nullen mag man als normaler Zuseher in den Nachrichten kaum mehr folgen. Makroökonomen fürchten die großen Zahlen nicht; wissen sie einzuordnen und in Relation zu setzen. Einige hatte Dr. Kater, Chefvolkswirt eines großen Vermögensverwalters, zu seinem Vortrag nach Karlsruhe mitgebracht.

 

Wie steht es um den Standort Deutschland, lautete die Leitfrage an den erfahrenen Analysten, wie behauptet er sich im Wettbewerb? "Behaupten" hier im ökonomisch-kompetitiven, nicht im machtpolitisch-konfrontativen Sinn gemeint. Eher mittelprächtig derzeit, kann man zusammenfassen, aus anderen Gründen allerdings, als man oft vordergründig denkt. Externe Faktoren, Lieferkettenstörungen, gestiegene Energiepreise, werden wirken, aber eher langfristig. Akut leidet die Konjunktur am hohen Zins. Relativ; es gab schon höhere. Der Anstieg von unter null auf um die vier Prozent allerdings ist historisch einmalig. Mittel der Notenbank, die Teuerung herunterzuzwingen auf die Zielmarke von zwei Prozent, was ihr noch nicht ganz gelungen ist. Harte Bremse aber auch für den Motor der Volkswirtschaft; der Bausektor merkte es zuerst, Investitionsgüterhersteller wenig später, und die hat Deutschland reichlich. Private Schuldner, die refinanzieren müssen, folgen bald. Sind es zu viele, werden auch die Banken sehr viel abzuschreiben haben.

 

Das die kurzfristig-konjunkturelle Seite, illustriert durch eine steil steigende Zinskurve. Die bringt Anpassungsstress, meint Kater, ein, zwei Jahre; eine Weile geht es noch. Längerfristig aber sorgen ihn zwei andere Kurven. Eine das Potentialwachstum, eine rechnerische Größe, bei Vollauslastung der Volkswirtschaft. Die sinkt in Deutschland stetig, zuletzt auf 0,8 %. Wachstum zu generieren, fällt immer schwerer; Folge der Demographie, so die Vermutung, durch Zuwanderung allein kaum auszugleichen, denn die hat soziale, politische Grenzen. Durch Steigerung der Produktivität auch nicht; deren Verlauf ging zuletzt in die Waagrechte. Automatisierungsgewinne in den Industrien scheinen weitgehend ausgeschöpft. Im Dienstleistungssektor, der anteilsmäßig stetig zunimmt, gibt es sie kaum. Rätsel für die Ökonomen; KI vielleicht bald als Umschwungfaktor, als Hoffnungsträger mehr zu sehen denn zu fürchten.

 

Was also zu tun, was zu vermeiden? Autarkiebestrebungen, politisch induziert, sind die Rettung nicht. Haben schon in den 1930er Jahren, wie Kater vorrechnet, die Wirtschaftskrise fatal verschärft und nicht behoben. "Homeland Economy", "Nearshoring", "Friendshoring", das klingt sympathisch, hat aber Kosten. Auf wenigen Feldern, wo man wirklich gefährlich abhängig ist von anderen, mag das angehen. Von den chinesischen Exporten zum Beispiel sei das aber nur ein Bruchteil. Der großangelegte Einstieg in die subventionsgelenkte Staatswirtschaft also ein Irrweg; kein ministerieller Planer könne jemals so viel wissen wie die Masse informierter Marktteilnehmer. Auf Märkte setzen also, auch in Kenntnis ihrer Grenzen. Und auf Freihandel. Diversifizieren. Und sollte der Trumpismus wiederkommen: nicht Zölle mit Gegenzöllen beantworten, sondern ausweichen. Groß mag Amerika sein, und China auch; die Welt ist größer. Chancen, sagt Kater, sind noch da. Und Abgesänge auf den "kranken Mann Europas", die gab es früher schon, woran sich mancher noch erinnern kann. Das Alter macht entspannter, auch in solchen Fragen.



Schluss mit dem Zaudern


Vortrag des Politologen Dr. Konstantinos Tsetsos, 8. November 2023

Pandemie, Ukraine, Nahost – Krisen und Kriege prägten die letzten Jahre. Das wird kaum aufhören, sich vielmehr intensivieren, weil alle globalen Indikatoren dafürsprechen. Und immer näher an Europa herankommen, das es an Vorkehrungen bislang hat mangeln lassen. So ein Konfliktforscher von der Münchener Bundeswehruniversität.

Dr. Tsetsos malt gern düster. So bedrohlich die sicherheitspolitischen Szenarien, dass man, je nach Jahrgang, nachzurechnen beginnt, wieviel davon man noch erleben, welchem Geschehen man durch Gnade der frühen Geburt wohl entgehen wird. Ein Szenario geht so: 2050 schon steigt die Erderwärmung über zwei Grad, in wärmeren Weltgegenden toben blutige Konflikte um Wasser und Ackerboden. Viele afrikanische Staaten zerfallen, werden von Söldnertruppen beherrscht, die sich gegenseitig bekriegen. Großmächte, um Ressourcen streitend, mischen sich ein, werden Konfliktparteien; installieren, wo sie können, Marionetten; Putsche und Gegenputsche wechseln sich ab. Die Migration erreicht ungekannte Größenordnungen, Millionen stranden nahe den europäischen Grenzen, am Mittelmeer, in der Türkei, was auch diese Staaten destabilisiert.

 

Wohl dem Staat, der dann noch handlungsfähig ist, auch mit „hard power“, zur Not mit Militär. So die eigentliche Botschaft: bereitet euch vor, auf das, was kommt. Sehr wahrscheinlich kommt; von den Klimamodellen ergibt schon die Rechnung mit mäßigeren, erwartbaren Kurven recht üble Resultate. Die sich mit einer ohnehin instabiler, weil vielpoliger werdenden Weltordnung verbinden, in der regionale Ressourcenkonflikte, die entlang bestehender ethnischer, religiöser Trennlinien aufbrechen, mit dem globalen Hegemonialkonflikt zusammenfallen. Und mit fortschreitender Technik; nicht nur unmittelbarer militärischer Zerstörungskraft, auch Cyber-Krieg, Informationskrieg, der den Gegner mit immer feineren Methoden lähmen kann, lange ehe der erste Schuss fällt.

 

Was wäre zu tun, nach Tsetsos? An der Wehrhaftigkeit arbeiten, in einem umfassenden Sinn. Mehr Militärausgaben, obwohl nötig, helfen alleine nicht. Vorbereitung für den Ernstfall – ein Dienstjahr für alle, nachher, je nach Fähigkeiten, Registrierung in einer Zivilreserve, die schnell mobilisierbar wäre. Robuste Infrastruktur, Abbau föderaler Parallelzuständigkeiten, Cyber-Sicherheit in kritischen Behörden und Betrieben nach gesetzlichen Vorgaben. Aufbau von Frühwarnmechanismen. Regelmäßige Übungen, für viele, nicht nur schmale Schichten von Staatsbediensteten. Das wäre die eigentliche Zeitenwende. Die zeitig kommen müsse, so Tsetsos; niemand warte darauf, bis die Europäer ihre Selbstfindungsphase beendet hätten.



Programm 2022/23



Termin Ort Top Referent Vortragstitel
27.10.2022 Hannover Dr. Alexander Jehn Politologe, Wiesbaden Demokratie: Die Herausforderungen einer pluralen Gesellschaftsform
21.11.2022 Dresden Dr. Antje Nötzold Politologin, Chemnitz Aktuelle Herausforderungen der deutschen Außenpolitik
7.12.2022 Münster Prof. Dr. Joachim Krause Politologe, Kiel Deutschland im außenpolitischen Wandel
13.01.2023 Osnabrück Prof. Dr. Ulrich Schlie Historiker, Bonn Europa und die Vereinigten Staaten in einer postamerikanischen Welt
03.05.2023 Hamburg Prof. Dr. Ulrich Lappenküper Historiker, Friedsrichsruh Bismarck heute: die Nachwirkungen der Reichsgründung
18.05.2023 Karlsruhe Dr. Konstantinos Tsetsos Politologe, München Freiheit und Demokratie verteidigen: Was Deutschland dafür auch militärisch leisten kann
12.06.2023 Leoben Dr. René Cuperus Politologe, Den Haag Zeitenwende Europa

Stärke und Vorsicht


Vortrag des Politologen Dr. René Cuperus, 12. Juni 2023

Äußere Herausforderungen können nach innen festigend wirkend, aber die Krisen der Welt treffen auf ein unsicheres, bereits überdehntes, dennoch wachsendes Europa. Stärke und Einfluss wird es nur geben mit Vorsicht und Augenmaß – wenn die Politiker ihre Völker nicht überfordern. So der niederländische Politologe René Cuperus in einem für ihn ganz neuen Umfeld an der Montanuniversität Leoben.

Berge kennt man in Holland nicht; die höchste Erhebung, die in Österreich kaum als Hügel durchgehen würde, liegt rund 300 Meter über dem Meer. Leoben, 200 Meter höher gelegen, von Gipfeln umschlossen, an der alten Eisenstraße und mit großer Bergmannstradition, war insofern terra incognita für einen niederländischen Akademiker. Solche Landschaften kennt man in Holland nicht am Campus, allenfalls aus den Ferien

Auf solche war René Cuperus nicht aus an diesem Abend; im Gegenteil. "Der Urlaub ist vorüber." Damit meinte er allerdings nicht die Sommerfrische in den Bergen, sondern den geopolitischen Begriff. Für Europa geht die Bequemlichkeit zu Ende; für Deutschland auch und insbesondere. Vorbei die Zeiten, wo man die Energieversorgung an die Russen, die Sicherheit an die Amerikaner, das Wachstum an die Chinesen delegieren konnte, wie Cuperus den Ökonomen Hans-Werner Sinn zustimmend zitierte. Zeit zum Aufwachen. Druck kommt nun von allen Seiten.

Druck kann beflügeln oder kann lähmen. Europa, in dem nicht alle geopolitisch im Tiefschlaf lagen, das aber ohne deutsches Zentrum, ohne deutsch-französische Achse nicht wirken kann, ist seit langem schon in einer institutionellen Krise. Eigentlich ist es jetzt bereits zu groß und heterogen; doch weitere östliche Länder, nach Sicherheit suchend, drängen hinein; werden es noch schwerer machen, gemeinsame Standards zu finden und zu halten. Zumal die Zielvorstellungen stark divergieren. Der europäische Bundesstaat mag in Deutschland populär sein, im Rest Europas sind solche Visionen hoffnungslos in einer Minderheitenposition.

Welche Strategie empfiehlt also Cuperus? Offenheit und Stärke nach außen. Die Verbündeten einbinden, die man braucht; auch für England einen geeigneten Platz finden, etwa in einem europäischen Sicherheitsrat. Keine Furcht haben vor verschiedenen Ringen oder Kreisen um das Kern-Europa herum. Nach innen: Vorsicht, Umsicht; keine nationalistische Gegenbewegung provozieren durch zu viel Zentralismus und Einheitlichkeit. Vielfalt respektieren. Standards durchsetzen, Rechtsstaat, Korruptionsbekämpfung, das ja. Aber nicht meinen, ganz Europa müsse immer alle Wertvorstellungen der Brüsseler Elite, der westlichen Großstädter teilen.

Ob diese Doppelstrategie Erfolg verspricht? Noch beobachtet Cuperus wenig Einsicht bei den Eurokraten; Widerstand beantworten sie mit mehr vom Gleichen; EU-Europa bleibt "Politikerpolitik", bürgerfern. Mit recht viel Beifall aus den deutschen Parteien. Österreich, die Niederlande agierten deutlich pragmatischer; auch weil die populistischen Gegenbewegungen dort bereits stärker sind und man Vorsicht gelernt hat. Welche Strategie sich durchsetzen wird? Das blieb an diesem Abend offen; und bleibt es wohl für eine Weile.


Zum Weiterlesen
. René Cuperus: 7 Mythen über Europa. Dietz-Verlag 2021, 200 Seiten.



Es wird ungemütlich


Vortrag des Politologen Dr. Konstantinos Tsetsos, 18. Mai 2023

Wie wird eine neue Weltordnung nach 2030 aussehen? Bei eindeutigem Gesamttrend formuliert die Forschung unterschiedliche Szenarien. Gut vorbereitet ist die deutsche Sicherheitspolitik bislang auf keines. Zeit zum Umsteuern, findet der Konfliktforscher Konstantinos Tsetsos.

Der griechische Mythos erzählt von der Seherin Kassandra; vom Gott Apoll verflucht dazu, drohendes Unheil stets vorauszusagen, doch nie Gehör damit zu finden. Ähnlich mögen Sicherheitsforscher wie Konstantinos Tsetsos sich immerzu gefühlt haben; er Grieche dem Pass nach, doch in Deutschland geboren, Lehrer an der
Münchener Bundeswehruniversität; "Head of Foresight" mit Titel, ein Oberseher also. Als solcher sieht er, wie seine Kollegen, das Gleiche kommen, seit Jahren schon; lange nicht einmal wahrgenommen von der breiten Öffentlichkeit; nun gehört, da Krieg und Sicherheitsfragen nach Europa zurückgekehrt sind und diese Themen wieder sehr in Mode; ob auch befolgt in den wesentlichen Schlussfolgerungen, das bleibt die offene Frage.

Dr. Tsetsos teilte seinen Vortrag in Karlsruhe in zwei Sichten: die große, weltpolitische als Herleitung dafür, warum die heile, friedliche Nachkriegswelt nun auf ihr Ende zugeht; die kleine, deutsche, die darauf schaut, was auf nationalstaatlicher Ebene für ein wenig mehr Sicherheit zu tun wäre. Von der großen Sicht liest man viel auch in den Zeitungen; der drohende Hegemonialkonflikt zwischen China und den Vereinigten Staaten, verschiedene mögliche Entwicklungsstränge darin, Blockteilung und Entflechtung, Verschleppung, Eskalation. Machtverschiebungen, chinesisches Vordringen in bisherige Hinterhöfe anderer, den postkolonialen afrikanischen, neuerdings den postsowjetischen zentralasiatischen; die große chinesische Flottenrüstung, Herausforderung für das amerikanische Bündnissystem in Asien. Neue Konfliktformen jenseits des Großkriegs, Rohstoffmonopole, Technikmonopole, verletzbare Infrastruktur in Energie, Kommunikation, Seeverkehr. Große Fragen, in denen Deutschland, auch ganz Europa, keine Gestalterrolle hat, mehr Zuschauer ist, wenn auch eindeutig parteiischer.

Konkrete Empfehlungen hat Dr. Tsetsos durchaus auch. Ganz generell: mehr investieren, in Sicherheit, in Bildung auch, um im Wettrüsten der Technologien besser mithalten zu können. Wenn nötig, wie die Dänen auf einen Feiertag verzichten, um Mittel dafür freizumachen. Dann: Resilienter werden, neuralgische Stellen besser absichern. Drohnenflugverbot zum Beispiel um Flughäfen etwa, Störsignale dort im Nahbereich; regelmäßige Übungen in Cybersicherheit, staatliche Mindestvorgaben dafür. Schneller werden; ein großes Sondervermögen aufzulegen, aber mit Beschaffungen zu warten, bis die Inflation schon viel davon entwertet hat, komme eben zustande, wen man für alles vom U-Boot bis zum Kugelschreiber den gleichen Beschaffungsprozess durchlaufen will. Mental bereit werden, nicht nur Rechte, auch Staatsbürgerpflichten anerkennen. Tsetsos plädiert für ein allgemeines Pflichtjahr, bei Militär, Zivildienst, Feuerwehr und THW; samt Register für eine anschließende (Zivil-)Reserve, auf die man zurückgreifen kann im Ernstfall. Und: Europäisieren, wo es sinnvoll ist, Effizienzgewinne durch gemeinsame Verbände mit wechselndem Oberbefehl, Prozesse und IT-Systeme harmonisieren.

Viel zu tun wäre also noch. Die Rolle als "Weltmeister im Wegdelegieren von Verantwortung" könnten die Europäer, speziell die Deutschen sich nicht länger leisten. Sonst sei, so Tsetsos plakativ, in Europa die Party bald vorüber.



Bismarck im unsteten Zeitgeist


Vortrag des Historikers Prof. Dr. Ulrich Lappenküper, Otto-von-Bismarck-Stiftung, 3. Mai 2023

 

Bismarcks Erbe wirkt bis heute fort – materiell, mit Nationalstaat, Föderalismus, Sozialstaat, und ideell, im Streit darum, ob man den Eisernen Kanzler zum eigenen Traditionsbestand zählen möchte oder nicht; wobei der Streit alleine mittlerweile bereits Tradition geworden ist. So in seinem Vortrag  der Historiker Ulrich Lappenküper, Vorstand und Geschäftsführer der bundeseigenen Otto-von-Bismarck-Stiftung in Friedrichsruh bei Hamburg.

 

Wenn Geschichte wieder aktuell wird, dann oft über Symbolik. In dieser Beziehung haben Bismarck und seine Reichsgründung neuerdings wieder Konjunktur. Durch den vielerorts, auch in Hamburg, ausgetragenen Streit um die Denkmäler, die egalitäre Kritiker des konservativen Monarchisten und Kolonialpolitikers am liebsten entfernen würden. Oder im Zuge der Corona-Proteste, während derer Demonstranten mit schwarz-weiß-roten Fahnen die Reichstagstreppe stürmten und offenbar zum Ausdruck brachten, dass sie statt der Berliner Republik gerne Bismarcks altes Reich wiedererrichtet sähen. Beides "verstörende Phänomene", wie Professor Lappenküper meint. Nicht nur die revolutionäre Linke, auch die autokratische Rechte neige zum geschichtspolitischen Jakobinismus. Und Bismarck, nach so langen Jahren, taugt immer noch zum Streitobjekt.

 

Was freilich während seiner aktiven Laufbahn schon nicht anders war. Auch damals reizte er ebenso zur Bewunderung wie zur Verachtung; oft beides zugleich, bei Theodor Fontane etwa, einem berühmten Zeitgenossen. Nachher durchlief das Bismarck-Bild einen steten Wechsel der Extreme. Mythische Überhöhung, beinahe kultische Verehrung des Reichsgründers in der wilhelminischen Zeit und auch noch eine Weile danach; ein fast unvermitteltes Umkippen ins Dämonische nach 1945, mit teleologischen Kontinuitätsbehauptungen vom preußischen Junker zum österreichischen Gefreiten. Dann Differenzierung, Überwindung dieser Dichotomie nicht zuletzt durch die große Biographie Lothar Galls; Wiedereinbettung in eine längere Kontinuität des deutschen Nationalstaats nach 1990; schließlich Historisierung, nüchtern-objektive Betrachtung der Leistungen und Fehler; zuletzt in der Kolonialismus-Debatte, in der merkwürdigen Erscheinung der Reichsbürger und im Streit um die richtige Russland-Politik dann eine erneute, geschichtspolitische Instrumentalisierung; ein "Rückfall", wie Lappenküper meint.

 

Übrigens war dem Referenten wichtig, zu betonen, dass eine gar zu naive Russland-Freundlichkeit durchaus nicht bismarckische Politik gewesen sei, was sich beim Berliner Kongress und in den Bündnissen gezeigt habe. Überhaupt war Bismarck das Dogmatische fremd; Politik betrachtete er als die Kunst des Möglichen, die Aufgabe, ein Schiff zu steuern durch unbekannte Gewässer, wobei das Wenden mitunter die einzige Möglichkeit darstellte, aus einer Sackgasse herauszukommen, und nichts, dessen man sich zu schämen hätte. Bismarcks Erbe bleibt ambivalent; Konfliktpolitik, Ausgrenzung politischer Gegner als Feinde, eine schwierige politische Kultur im Inneren; dort aber durchaus auch Errungenschaften, die Sozialversicherungen, das gleiche Reichstagswahlrecht; die Schaffung und Erhaltung einer europäischen Friedensordnung als oberste Maxime, nachdem Deutschland seine Stellung darin kriegerisch erkämpft hatte; der Ausgleich von Interessen, wo er möglich schien; die Rolle des ehrlichen Maklers, die naturgemäß nicht immer durchzuhalten war.

 

Bismarck bietet einen reichen Schatz historischer Erfahrung. Den man, nach Professor Lappenküper, nutzen sollte, statt ihn, von minoritären Aktivisten getrieben, aus dem öffentlichen Bewusstsein zu tilgen. Nicht um klare Empfehlungen abzuleiten für konkrete Entscheidungen; dafür sind Bismarck und seine Zeit, mit ihren geistigen, kulturellen Voraussetzungen, uns doch inzwischen gar zu fern. Aber, nach Burckhardt, um Weisheit für immer zu gewinnen, und das ewig-menschliche Streben und Dulden besser zu verstehen, dessen Teil wir sind und bleiben. Denn dereinst werden wir ebenfalls Geschichte sein.




In der postamerikanischen Welt


Vortrag des Historikers Prof. Dr. Ulrich Schlie, 13. Januar 2023

 

Amerikas absehbarer Abstieg von der dominierenden Weltmacht zu einer unter mehreren macht die außenpolitischen Herausforderungen für die europäischen Verbündeten nicht geringer. Einschätzungen eines Bonner Historikers beim Vortrag in Osnabrück.

 

Der Referent begann den Abend pädagogisch: Er bat die Zuhörer, kurz ihr Interesse am Thema darzulegen. Fast unisono kam die Frage an ihn, wie Deutschland seine Abhängigkeit insbesondere von den USA verringern könne.

 

Schlies Antwort war, es mache keinen Sinn, sich gegen die USA zu positionieren, schließlich verteidige man gemeinsame Werte, nämlich Demokratie und Freiheit. Gerade weil die USA an globaler Dominanz verlören und der Wettbewerb mit China zu großen Unsicherheiten führe, müssten Deutschland und Europa sich an Geopolitik gewöhnen und eine echte Arbeitsteilung mit den USA über die Nato hinaus anstreben. Gelänge dies, würde die Abhängigkeit mehr und mehr zu einer Zusammenarbeit werden.

 

Die Welt sei gefährlicher geworden, so Schlie, nicht nur wegen der Kriegspolitik Russlands – der bisher tiefste Einschnitt des Jahrhunderts –, sondern auch wegen der aggressiven Politik Chinas, Nordkoreas und des Irans. Auch das wankelmütige Verhalten der Türkei bereite Sorgen.

 

Es sei ein Gebot der Vernunft, dass Deutschland sich innenpolitisch angesichts der bedrohlichen Weltlage neu aufstelle und in einem neu definierten Staatsbewusstsein Außenpolitik, Wirtschaft und Militär zusammendenke. Innerhalb der EU müssten gemeinsames Vorgehen und gemeinsame Strukturen im postamerikanischen Zeitalter zu einem neuen Selbstbewusstsein weiterentwickelt werden. Zu einem Bundesstaat Europa wird es aber nicht kommen.

 

Die USA würden sich nicht aus Europa zurückziehen, wenn es den Kontinent als zuverlässigen Partner erlebten. Voraussetzung sei freilich eine innere Stärke Amerikas, wozu es Anlässe für Zweifel gebe.




Stärke und Hoffnung


Vortrag des Politologen Prof. Dr. Joachim Krause, 7. Dezember 2022

 

Die Abschreckungslogik des Kalten Krieges ist nach Europa zurückgekehrt. Sie verzeiht die Schwächen nicht mehr, die der Westen sich jahrzehntelang leistete. Eindeutige Urteile über Deutschland im außenpolitischen Wandel fällt Politikwissenschaftler Joachim Krause, emeritierter Professor der Universität Kiel, Direktor des dortigen Instituts für Sicherheitspolitik und Mitherausgeber der Sirius-Zeitschrift, beim Vortrag in Münster.

 

Politik will gerne lernen, aber nicht immer lernt sie das Richtige. „Ich bin nicht Kaiser Wilhelm“, soll Olaf Scholz einmal ausgerufen haben, er wolle keinen Weltkrieg auslösen durch zu heftige Provokationen gegen Moskau. Bescheidener, deutete Professor Krause ihn, wolle er es nicht dem Kanzler Bethmann Hollweg gleichtun; der habe vor 1914 offensive Großmachtpolitik betrieben, auf- und mitgerüstet, und am Ende war Krieg. Nach 2010 habe Deutschland, und mit ihm Westeuropa, die Rüstungsspirale vermeiden, dem russischem Kräfteaufbau nichts entgegensetzen wollen, und am Ende ist wieder Krieg. Frieden schaffen ohne Waffen somit ebenso gescheitert wie Frieden schaffen nur durch Waffen.

 

Für die nächsten Jahre und Jahrzehnte erwartet Krause wieder kalten Krieg zwischen Russland und Westeuropa, der nur im besten Falle kalt bleiben wird. Dies deshalb, weil der Putinismus größer sei als die Person, der großrussische Nationalismus tief in die Volksseele eingesickert, das ganze kleptokratische Herrschaftssystem, die „mafiöse Machtvertikale“ mit eineinhalb Billionen Dollar Auslandsvermögen auf ideologische Legitimation und Konfliktablenkung nach außen existenziell angewiesen. Und weil Westeuropa wiederum, dreimal so stark an Bevölkerung, zigfach so stark an Wirtschaftskraft, einen russischen Vormachtanspruch wie in den Ultimaten um die Jahreswende 2021/22 formuliert, niemals hinnehmen könne.

 

Die nähere Zukunft werde entschieden auf den Schlachtfeldern der Ukraine. Mit einem russischen Totalsieg rechnet Professor Krause dort nicht mehr. Soweit man die Zahlen von außen überblicken kann: Verluste von einem Viertel bei den Kampfflugzeugen, der Hälfte bei Panzern und gepanzerten Fahrzeugen, hunderttausend Mann gefallen oder nicht mehr kampffähig; zweihundertfünfzigtausend Rekruten aus der Mobilmachung stehen vierhunderttausend gegenüber, die ins Ausland türmten. Munitionsknappheit allerdings herrscht auf beiden Seiten. Westeuropa, mit begrenzter Wehrkraft, schwacher Verteidigung im Baltikum, dürfe jedenfalls auch im Eigeninteresse froh sein, dass die tapferen Ukrainer so erfolgreich einen Sperrriegel gegen das russische Vordringen bilden.

 

Mittelfristig müsse Deutschland seine Zeit des strategischen Irrens, „eine der größten außenpolitischen Katastrophen der jüngeren Vergangenheit“, korrigieren und wieder zum Rückgrat der europäischen Verteidigung werden: neun einsatzfähige Kampfbrigaden statt nur einer, logistischer Rückhalt der NATO in Zentraleuropa mit Straßen, Brücken, Luftverteidigung, und mit nuklearer Teilhabe. Daneben Begrenzung der ökonomischen Abhängigkeiten, die freilich beidseitig seien; die russische Wirtschaft, übrigens auch Rüstungswirtschaft, beginne unter dem Mangel westlicher Technologieimporte bereits zu leiden. Und China, wenn man an mögliche neue Krisen denkt, sei von den westlichen Absatzmärkten so abhängig wie umgekehrt. Man brauche sich nicht kleiner zu machen, als man sei, solange man einig bleibe.

 

Aus einer Position der Stärke heraus lasse sich dann auch verhandeln; nach einem Waffenstillstand der Rückzug aus ukrainischem Gebiet mit Androhung der NATO-Aufnahme oder bilateraler Bündnisse sich womöglich durchsetzen. Mut und Entschlossenheit freilich gehörten dazu. Die zögerliche Umsetzung der „Zeitenwende“, die faktisch noch zu keiner Bestellung von Kriegsgerät, keiner Erhöhung der knappen Munitionsbestände geführt habe, macht Professor Krause an der Entschlossenheit der deutschen Bundesregierung ein wenig zweifeln, wie auch die übertrieben furchtsame Haltung mancher Generale. Als Optimist, wie sich in der fruchtbaren Diskussion zeigte, mag er die Hoffnung aber nicht aufgeben.





Bedroht an vielen Fronten


Vortrag der Politologin PD Dr. Antje Nötzold, TU Chemnitz, 21. November 2022

 

Sicherheitspolitik ist seit Anfang 2022 so plötzlich in aller Munde, wie es zwei Jahre zuvor der Gesundheitsschutz war. Viele Risiken, für Experten lange bekannt, verlassen nun die akademische Nische und streben mit Macht auf die politische Agenda. Da so viel sich aufgestaut hat, tut ein Überblick not. Bericht zum Vortrag von PD Dr. Antje Nötzold.

 

Wo die Herausforderungen, Sicherheitsrisiken für ein Land oder ein Bündnis von Ländern hauptsächlich liegen, ist nicht immer einfach zu sagen. Oft nicht einmal im Nachhinein. Der Althistoriker Alexander Demandt hat sich einmal das Vergnügen gemacht, all die verschiedenen Theorien, die ihm zum Fall Roms unterkamen, in einem Buch zu konzentrieren. Mit dem – erwartbaren – Ergebnis, dass die vielen Erklärungen: Barbareneinfälle, Bürgerkriege, Dekadenz, Christianisierung, fehlender Fortschritt in der Landwirtschaft etc. je nach Epoche und damit Perspektive der Betrachter wechselten. Demandt selbst betonte 2015/16 den Faktor unkontrollierter Migration. Derzeit sind Seuchen und Klimaveränderung als Gründe für den Niedergang Roms sehr im Trend.

 

Vielleicht lag die Ursache auch schlicht in der Überforderung durch viele ernsthafte Krisen zur gleichen Zeit. So gesehen konnte einem durchaus angst und bange werden beim Vortrag der Politologin Dr. Antje Nötzold, Privatdozentin an der TU Chemnitz. Nötzold, Expertin für Sicherheitspolitik, zugleich Associate Fellow am CASSIS in Bonn, sprach über die Herausforderungen deutscher Außenpolitik der Gegenwart. Mit denen beschoss sie das Publikum gleichsam wie aus einem Maschinengewehr, denn bei der hohen Frequenz hatte man durchaus Mühe zu folgen. Nötzold feuerte drei Salven; sortiert nach dem bekannten Rumsfeld-Zitat, wonach es neben Dingen, die man weiß, auch solche gibt, von denen man weiß, dass man sie nicht weiß, und, am ärgsten, solche, von denen man nicht einmal das weiß, die man also gar nicht kennt.

 

Schon die Liste der „known knowns“ war erschreckend lang; bekannte Risiken, die schon in fünf oder zehn Jahren virulent werden könnten. Faktoren wie der Systemkonflikt zwischen China und Amerika darunter, die Verbreitung von Nuklearwaffen, die bedrohte Energieversorgungssicherheit, die weitgehend ungeschützte kritische Infrastruktur, auch jene auf dem Meeresboden, ebenso wie Anfälligkeiten in Lieferketten und beim Rohstoffnachschub. Dies als Beispiele; die Liste war erheblich länger; jeder Punkt ausreichend, um ein Seminar damit zu bestreiten, und potentiell erhebliche politische Kräfte zu binden, um sich auf das Risiko einzustellen und vorzubereiten, dann nämlich, wenn man das ernsthaft will.

 

Bekannte Unbekannte waren es kaum weniger. Risiken, von denen man weiß, dass sie bestehen, deren Eintrittswahrscheinlichkeit und Folgen aber schwerer abzuschätzen sind. Die mögliche Abnahme des US-Engagements in Europa, Folge des Schwenks nach Asien, die wachsende Instabilität der US-Demokratie selbst; die (In-)Stabilität im Nahen Osten, rund um das iranische Nuklearprogramm und den möglichen Rüstungswettlauf; Hungersnöte und Klimaflucht; der Einfluss staatlich nicht kontrollierter, globaler Tech-Konzerne; das chinesische Streben nach Technologieführerschaft und die nachlassende Attraktivität des westlichen Demokratiemodells. Wiederum wären weitere Punkte zu nennen. Von unbekannten Unbekannten, „schwarzen Schwänen“ nicht zu reden, wie einst der Weltfinanzkrise. Die kommen noch obendrauf.

 

Wie nun mit den vielen Herausforderungen umgehen? Nötzold analysierte die Reaktionen der verschiedenen politischen Ebenen. Die deutsche „Zeitenwende“ in der Sicherheitspolitik? Eindrucksvoll im rhetorischen Paradigmenwechsel, noch unzureichend in der Substanz; die geplanten 100 Milliarden-Extra-Investition genügten gerade einmal zur Beseitigung der ärgsten Ausrüstungsmängel. Die EU-Sicherheitsstrategie? Erstaunlich weitblickend, aber zunächst bloßes Papier, da Sicherheitspolitik Kompetenz der Mitgliedstaaten bleibt. Die Neuausrichtung der NATO? Klar in der Benennung Russlands als Bedrohung, mit den militärischen Außenposten über Schwarzes Meer, östliches Mittelmeer bis hinunter in die Sahelzone. Konkret im „new force model“ mit festgelegten Bereitstellungszeiten und Truppenzahlen direkt unter NATO-Befehl, von 40.000 Mann in drei Tagen bis 500.000 Mann in sechs Monaten. Aber eben – noch Zukunft.

 

Wie weit das trägt? Demandt würde vermutlich nachweisen können, dass Kaiser Valens und Kaiser Honorius sich einst ähnliche Fragen stellten. Die lebhafte Diskussion zu Nötzolds Vortrag zeigte die Vielfalt der Bedrohungen, aber auch die politische Chance, welche die aktuelle Krisendynamik bietet. Viele Schätze aus dem diplomatischen Poesiealbum seien wertlos geworden; die Zeit der Floskeln vorüber, die Zeit der Taten angebrochen. Europa, wenn es in der Welt von Morgen selbstbestimmt fortbestehen will, müsse seine Sicherheit in die eigenen Hände nehmen – global gedacht, in allen Dimensionen und mit der nötigen Ausdauer. Ergebnis, ehrlicherweise: offen.




Gegenwart und Zukunft

unserer parlamentarischen Demokratie


Vortrag von Dr. Alexander Jehn (Direktor der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung),27.10.2022

 


Dr. Jehn eröffnete seinen Vortrag mit den Worten, dass Kritik und Diskussion in der Demokratie nicht nur gewünscht, sondern zu den Zielen gehöre.


Was heißt Krise der Demokratie? "Wutbürger“ kann man als Schlüsselbegriff bezeichnen. Warum „Wut“ und nicht sachliche Auseinandersetzung, müsse man sich fragen. „Wutbürger“ in vielen Themenbereichen sind mittlerweile mehr als nur eine Randgruppe und lassen sich nicht in einem Rechts- oder Linksdenken verorten. Es geht ihnen auch um Ablehnung unserer demokratischen Verfahren und Ordnung

.

Feindselige Kritik an der Demokratie ist keine neuzeitige Erscheinung. Nach der Ausrufung der ersten Republik am 9. November 1918 setzten sofort Ablehnung und gewalttätige Anfeindungen der Demokratie durch Rechts- und Linksextremisten ein.

Durchaus ruhiger ging es in der Bundesrepublik Deutschland zu, ausgenommen die Zeit der linksextremen RAF-Bewegung. Während der späten 1960er Jahre bis hin zur Jahrtausendwende war ein Hauptpunkt der Kritik die Abgehobenheit der politischen Repräsentanten ("Raumschiff Bonn", resp. Berlin). Rechtsextreme Kritik spielte kaum eine Rolle, da die Anzahl der Kritiker aus diesen Reihen gering war. Parteien wie NPD und Republikaner konnten keine langfristigen Erfolge verbuchen.

Dies änderte sich mit der AfD und der "Pegida"-Bewegung, vor allem im Osten. Es wurde nicht auf Verbesserungen hingearbeitet, sondern hauptsächlich versucht, die vorhandene politische Ordnung zu bemängeln und zu diskreditieren. Ausdrücke wie "Merkel-Diktatur" oder "rot-grün versiffter Meinungsterror" kamen in den Umlauf. Deutschland, so hieß es, habe seine Identität verloren und die eigene Kultur aufgegeben.


Nie, seit Gründung der Bundesrepublik, so Jehn, sei die parlamentarische Demokratie so sehr in Gefahr gewesen wie seit 2015. Heute stehen wir vor rechtsextremem Terror wie den Anschlägen in Halle und Hanau oder dem Attentat auf den Regierungspräsidenten von Kassel, Walter Lübcke.


Die Umstellungen im Leben durch die Coronapandemie schüren die Unzufriedenheit vieler Menschen mit der Demokratie. Querdenker, Coronaleugner oder Impfgegner wurden alltägliche Begriffe Radikale Kritiker auf allen Politikfeldern sind dabei nicht mehr einzig rechts oder links aufzufinden, sondern auch in der Mitte der Gesellschaft. Aufgabe der politischen Bildung sei es, mehr denn je den Wert von Freiheit, einer pluralen Gesellschaft und von demokratischem Zusammenleben zu vermitteln.


Putins Angriffskrieg in der Ukraine zwinge uns aktuell die Frage auf, so Jehn, was uns Freiheit, Sicherheit und Verteidigung wert sind und was wir selbst dafür geben wollen, ja, ob wir für Freiheit und Demokratie unseren Wohlstand ein Stück weit aufzugeben bereit sind. Diese Frage sei noch längst nicht ausdiskutiert.






Programm 2021/22



Termin Ort Top Referent Vortragstitel
03.11.21 Würzburg Dr. Thomas Petersen Meinungsforscher Die politische Stimmung vor und nach der Bundestagswahl
18.11.21 Osnabrück Marcel Grzanna Journalist & Autor China und der Westen: Bericht aus dem größten Überwachungsstaat
24.11.21 München Dr. Thomas Petersen Meinungsforscher Die politische Stimmung vor und nach der Bundestagswahl
16.12.21 Tübingen Ansgar Graw Journalist & Autor China oder der Westen: Wer gewinnt in Asien?
19.01.22 Würzburg Prof. Dr. Ulrich Lappenküper Historiker Otto v. Bismarck und das Kaiserreich: Aufbruch in die Moderne?
21.04.22 Göttingen Ansgar Graw Journalist & Autor China oder USA - wer führt in der Rivalität der Supermächte?
28.04.22 Mainz Dr. Rafael Seligmann Journalist & Zeithistoriker Seligmann - Kann ein Jude Deutscher sein?
11.05.22 Leoben Lukas Meschik Schriftsteller Lesung „Einladung zur Anstrengung - wie wir miteinander sprechen“
12.05.22 Wien Alexander Purger Journalist, Autor & Satiriker Warum die österreichische Politik ist, wie sie ist
07.06.22 Kiel Prof. Dr. Joachim Krause Politikwissenschaftler Neuer Kalter Krieg? Deutschland im außenpolitischen Wandel
22.06.22 Karlsruhe Dr. Oliver Haardt Historiker Kaiserreich und EU. Historische Einsichten in föderale Verfassungsstrukturen
23.06.22 Osnabrück Prof. Dr. Oliver Falck Ökonom Wie steht Deutschland in der Digitalisierung da?

Wie steht Deutschland in der Digitalisierung da?


Vortrag von Ökonom Prof. Dr. Oliver Falck, 23. Juni 2022

 

In Sachen Digitalisierung will jeder mitreden; jeder hat eigene Erfahrungen mit Funklöchern und niedriger Netzgeschwindigkeit. Die Infrastruktur, sagt Professor Falck, ist aber nicht einmal das Hauptproblem. Schulen, Gründerszene und mentale Voraussetzungen verdienen mehr Aufmerksamkeit.

 

Von vielen interessanten Schaubildern war dieses wohl das überraschendste. Im DESI-Connectivity-Index, der die digitale Infrastruktur beschreibt, liegt Deutschland seit Jahren konstant über dem EU-Durchschnitt und hat zuletzt zum Spitzenreiter Dänemark aufgeholt. Rechnet man ein, dass kleine Länder Strukturvorteile haben, weniger ausgedehnte, dünnbesiedelte Flächen, deren Anbindung aufwendig ist, steht Deutschland also gar nicht schlecht da. Andere "Baustellen" dagegen, wo es anders aussieht, sind zuletzt eher in den Hintergrund geraten.

 

Insgesamt, so Ökonom Falck vom Ifo-Institut, steht Deutschland nämlich nur mittelmäßig da. Die IT-Branche macht zwar rund 250 Mrd. Dollar jährlichen Umsatz, eine eindrucksvolle Zahl; im Vergleich mit Amerika ist das aber wenig, auch relativ zur Bevölkerungszahl unterproportional. Die großen IT-Konzerne mit hohem Börsenwert, d. h. hoher Gewinnerwartung, sind fast ausschließlich amerikanische, dann noch asiatische; Deutschland bewegt sich überwiegend in traditionellen Geschäftsfeldern.

 

Die Vormacht der amerikanischen Internetriesen der Plattformökonomie sei auch kaum mehr zu brechen. An ein europäisches Google oder Facebook glaubt Ökonom Falck nicht; Netzwerkeffekte, die Massen verfügbarer Daten schlagen algorithmische Intelligenz und seien durch Neueinsteiger am Markt kaum zu überwinden. Platz gebe es aber immerhin in Nischen, wo reine Größenskalierung nicht genügt, wo länderspezifisches Wissen oder sensorische Daten benötigt werden oder ein gewisser Serviceanteil enthalten ist. Positive Beispiele: Flixbus, das vom Auswerten lokaler Verkehrsdaten lebt; Zalando, das ein anderes Shopping-Erlebnis bietet als standardisiertes Einkaufen bei Amazon; Limehome, das Service-Appartments anbietet.

 

In der Breite allerdings fehle noch manches. Bei Patenten in künstlicher Intelligenz und Quantencomputing liegt Deutschland weit hinter den Angelsachsen. Eine Ursache: Gründungen, bei denen eher Innovation entsteht als in bestehenden Unternehmen, finden seltener statt. Was an schlechteren Finanzierungsmöglichkeiten, aber auch an einer mentalen Disposition liegt. Es herrscht weniger Gründergeist, vielleicht schon von der Schule her. In keinem Land, so eine zitierte Studie, werde in Schulbüchern der Unternehmer so negativ dargestellt wie in Deutschland.

 

In den Schulen, hinsichtlich Ausstattung, Kenntnissen, Anbindung, liegt Deutschland in Europa so sehr unter dem Durchschnitt wie fast nirgends sonst. In bestimmten Berufen, in denen die duale Ausbildung vor allem bei kleinen Unternehmen prägend ist, übrigens ebenso, vor allem im Dienstleistungsgewerbe. Auch das hat Strukturprobleme als Ursache – hinderliche föderale Zuständigkeiten, Ressorts mit unterschiedlichen IT-Systemen, aber ebenso mentale. Beim Bereitstellen von Daten, auch anonym und unter Einhaltung aller Richtlinien, sind die Deutschen überdurchschnittlich zurückhaltend. Innovationen auf Basis von Verkehrs-, selbst von Wetterdaten finden daher eher anderswo statt.

 

Am Anfang, empfiehlt Professor Falck, müsse daher eine gesellschaftliche Debatte über den richtigen Umgang mit Daten, über Chancen und Risiken stehen. Nur wenn das gesellschaftliche Umfeld stimmt, können Politik und Behörden Vorreiter im Bereitstellen und Nutzen von Daten werden, könne Gründergeist entstehen, Ausbildung, Finanzierung, Verwaltung nachhaltig verbessert werden.




Historische Einsichten in föderale Verfassungsstrukturen


Vortrag des Historikers Dr. Oliver Haardt, 22. Juni 2022

 

Wieder einmal strebt die Europäische Union an, sich zu erweitern; die Ukraine, Moldau, der Westbalkan sollen, auf lange Sicht, in die Gemeinschaft integriert werden. Fragen nach deren innerer Reform stellen sich darum umso drängender. Vorschläge gibt es viele, solche und solche. Historische Erfahrungen können bei deren Einsortierung helfen. Cambridge-Historiker Oliver Haardt findet interessante Parallelen zu einem seiner Forschungsgebiete: dem deutschen Kaiserreich.

 

Im Umfang der Bücher hat Haardt mittlerweile zu seinem Lehrer Christopher Clark aufgeschlossen. „Bismarcks ewiger Bund“ fällt mit beinahe tausend Seiten in die Kategorie der publizistischen Schwergewichte. Haardt erzählt die Geschichte des Kaiserreichs darin als Verfassungsgeschichte, vom Gründungsmythos des ewigen Fürstenbundes bis zur späteren Wirklichkeit einer unitarischen Reichsmonarchie mit mächtigem Reichstag, in dem der Bundesrat, als Sitz der Souveränität und Bollwerk des Föderalismus konzipiert, nurmehr ein Schattendasein führt und zum Anhängsel der (de facto) Reichsregierung herabsinkt. Haardt sieht die Verfassung nicht als starres Rechtsdokument, sondern als „ideellen Schrein“, „Speicher von Ideen“ – und als überaus wandelbar.

 

Der Referent verglich in Karlsruhe das Kaiserreich nun einerseits mit anderen bekannten Bundesstaaten, der Schweiz und den USA, andererseits mit der heutigen Verfassung der Europäischen Union, dem „komplexesten Föderalsystem der Gegenwart“; fand markante Unterschiede wie auch frappierende Ähnlichkeiten. Um nur von der EU zu reden: auch sie durchläuft einen Unitarisierungsprozess, hat eine zusammengesetzte Verfassung aus mehreren Verträgen, keine offizielle Regierung, dafür eine kollektive Exekutive mit Kommission und Ministerrat, ist vom Exekutivföderalismus geprägt, in dem die Mitgliedsstaaten von ihren Regierungen vertreten sind, und auch bei ihr ist der Vollzug ihrer Gesetze Sache der Einzelstaaten.

 

Sieben Lehren glaubt Haardt aus der Geschichte des Kaiserreichs daher für die Union ziehen zu können. Erstens: eine Verteidigungsgemeinschaft ohne volle Integration der Einzelheere ist möglich. Zweitens: die Hegemonie eines einzelnen Staates, damals Preußen, heute womöglich Deutschland, schadet einem föderalen Gemeinwesen. Drittens: eine Verfassung als einheitliches Dokument, ausgearbeitet von einer Volksversammlung, nicht von Regierungen, besitzt Vorzüge. Viertens: eine zentrale Schnittstelle im komplexen Institutionengefüge, damals der Reichskanzler, künftig womöglich ein direkt gewählter Kommissionspräsident, kann den einzelnen Politiker, der sie bilden muss, überfordern; verteilte Verantwortung hat Vorteile. Fünftens: Ein mächtiges Verfassungsgericht zur Auslegung der Verfassung ist wichtig; das Kaiserreich besaß keines, nur nachrangige Fragen gingen ans Reichsgericht, die wichtigen Rechtskonflikte wurden politische Konflikte; der europäische Gerichtshof heute streitet mit den nationalen Verfassungsgerichten um den Vorrang. Sechstens: Föderalismus ohne volle Volkssouveränität als Basis und volle Demokratisierung gerät in Widersprüche. Siebtens: Die politische Elite muss den Föderalismus als Eigenwert, nicht nur als taktisches Zugeständnis anerkennen.

 

Freilich gilt, so Haardt: historische Erfahrung gibt Denkanstöße, keine Handlungsanweisungen; dafür ist sie zu sehr kontextgebunden. Und: Verfassungen entstehen nicht freischwebend im idealen Raum, sondern oft in historischen Ausnahmesituationen, bilden Machtverhältnisse und Interessen ihrer Zeit ab. Damit ist zu rechnen; Offenheit, Entwicklungschancen des Föderalismus wäre daher der Vorzug zu geben vor einem Übermaß an Starrheit.

 

 

Zum Weiterlesen. Buch des Referenten: „Bismarcks ewiger Bund. Eine neue Geschichte des Deutschen Kaiserreiches




Neuer Kalter Krieg? Deutschland im außenpolitischen Wandel


Vortrag des Politologen Prof. Dr. Joachim Krause, 7. Juni 2022

 

Der Ukrainekrieg führt zu einer sicherheitspolitischen Neuorientierung der nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft und in ihr der Bundesrepublik. Mental und im Material komme es zu einer Rückbesinnung auf die Zeit des Kalten Krieges, meint Professor Krause, Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel.

 

Schon ganz wieder angekommen im Zeitalter der Blockkonfrontation sieht Krause Europa aber nicht. Anders als noch in den achtziger Jahren gibt es keine starke konventionelle russische Streitmacht in Mitteleuropa. Es stehen sich nicht riesige Panzerarmeen gegenüber. Tatsächlich sei Russland für einen konventionellen Krieg mit dem Westen derzeit überhaupt nicht gerüstet. Die Eskalationsketten seien damit auch nicht die gleichen wie damals; eine nukleare Auseinandersetzung nicht unmittelbar drohend, das rhetorische Spielen mit der atomaren Option seitens des Kreml vor allem psychologische Kriegsführung.

 

Daher warnt Krause vor panischer Selbstabschreckung. Härte sei gefragt, Hilfe für die Ukraine, vor allem aber die Bereitschaft zur Selbstverteidigung und zum Standhalten. Die demokratische Ukraine, die europäische Ordnung insgesamt sei für Präsident Putin schon aus ideologischen Gründen ein Pfahl im Fleische Russlands; als Systemkonkurrent, nicht etwa als militärische Bedrohung. Nachgiebigkeit werde daher nicht fruchten. Krause rät zu Wagemut, zugleich zu Gelassenheit und zum engen Anschluss an die westlichen Atommächte USA, Großbritannien und Frankreich.

 

Mit Blick auf die Ausrüstung der Bundeswehr sei viel zu tun; auch mit Blick auf die strategische Ausrichtung. Landes- und Bündnisverteidigung, nicht mehr Auslandseinsätze als erweiterte Entwicklungshilfe stünden wieder im Fokus. Für Material, Personalbestand und Ausbildungsziele ergeben sich daraus Folgen. Professor Krause sieht eine Diskussion zur Wiedereinführung der Wehrpflicht kommen und befürwortet sie.




Grundfragen österreichischer Innenpolitik

 

Vortrag des Journalisten Alexander Purger (Salzburger Nachrichten) ,12. Mai 2022

 

 

Dass das österreichische Parteien- und Regierungssystem so ist, wie es ist, beruht auf den letzten Jahrzehnten der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, so sie Analyse von Alexander Purger. Damals bildeten sich drei große Parteien oder besser Blöcke, die Christlich-Sozialen, heute die ÖVP, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, heute die SPÖ, und die Deutschliberale Partei, heute bedingt die FPÖ.

 

Eine schon in der Monarchie ungewöhnlich starke Polarisierung zwischen diesen Blöcken führte nach dem Ersten Weltkrieg – die Alliierten verhinderten den angestrebten Zusammenschluss mit Deutschland – zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen und 1934 mit Unterstützung Mussolinis zu einem spezifischen „Austrofaschismus“ als Regierungsform. Es waren Jahre der Unterdrückung, die nach Auffassung Purgers innenpolitisch noch kaum aufgearbeitet sind, und die 1938 durch den Einmarsch der deutschen Wehrmacht und den „Anschluss“ an das nationalsozialistische Deutsche Reich abgelöst wurden.

 

Nach dem 2. Weltkrieg folgten Jahre der großen Koalition von ÖVP und SPÖ, von Schwarzen und Roten, in alter und fester Abneigung verbunden, aber mangels Alternative zusammengeführt. Es entwickelte sich ein eigenes System, „Proporz“ genannt, nämlich die regelmäßige Besetzung aller wichtigen Posten mit Vertrauten beider Parteien. Staatsinterventionismus in der Wirtschaft und ein weit verbreiteter gesellschaftspolitischer Filz gingen damit einher.

 

Seit 1970 wurde auch die FPÖ in Regierungsbildungen mit SPÖ oder ÖVP einbezogen. Die „Blauen“ erlebten in den nächsten Jahrzehnten als „Antisystem“-Partei im System einen Höhenflug, stürzten aber infolge der „Ibiza“-Affäre 2020 wieder ab.

 

Weitere Kennzeichen der Innenpolitik sind eine starke Sozialpartnerschaft und somit wenig Arbeitskämpfe, eine linke Dominanz in der Medienlandschaft, die bei Affären im linken Spektrum oft zum Wegschauen führt, sowie eine gern gelebte militärpolitische Neutralität, die sich wieder im Ukraine-Konflikt bestätigte.

 

Die Republik Österreich ist also keine Bundesrepublik Deutschland im Miniformat, sondern ein durch seine Geschichte und vor allem durch eben seine Kleinheit geprägtes Land. Bei neun Millionen Einwohnern kennen sich Politiker, Journalisten und Wirtschaftsleute weitgehend persönlich. Das schafft Verbindungen guter und weniger guter Art, wodurch sich auch die verhältnismäßigen zahlreichen Affären um Geld und Posten erklären lassen.





Zwischen den Stühlen


Vortrag des Schriftstellers Lukas Meschik, 11. Mai 2022

 


Dass die digitale Demokratie nicht nur Vorzüge hat, kann mittlerweile als Gemeinplatz gelten. Kritik, die es ernst meint, bleibt aber nicht stehen bei Technik und regulatorischem Rahmen. Es sind ja die Nutzer, also wir, die wir Atmosphäre, Stimmung, Geist des digitalen Diskurses prägen; Kritik ist daher immer auch Selbstkritik. Von der gibt ein junger Wiener Schriftsteller eine Probe – ehrlich und schonungslos.

 

Politischer Publizist im eigentlichen Sinn ist Lukas Meschik nicht. Seine Welt sind Dichtung und Romanprosa, auch Liedtexte, Gesang, Gitarrenmusik. Seine Lesungen beginnt er mit Gedichten, „um den Kopf etwas durchzulüften“. Eines seiner jüngeren Werke, „Einladung zur Anstrengung“, aus dem er in Leoben ebenfalls las, ist jedoch eminent politisch, wenn auch über den Umweg der kritischen Selbstbeobachtung – nicht der politischen Klasse, sondern des einzelnen Bürgers, der am digital beschleunigten Diskurs teilhat.

 

Der besteht für Meschik großteils aus Lärmen und Geschrei. „Es ist traurig, wie laut wir einander nichts mehr zu sagen haben“, im „Ton wehleidiger Rechthaberei“, mit ständiger „Kränkungsbereitschaft“ und im ewig-gleichen, eintönigen Zyklus aus „Empörung, Erniedrigung, Ermüdung, Ernüchterung“. Soziale Medien, etablierte übrigens ebenso wie „alternative“, erzögen zu voreiligem Entscheiden und leichtfertigem Urteilen, Gruppen-, ja Meutenverhalten, gehässigem Verspotten statt ehrlichem Argument; eo ipso, aus ihrer eigenen Struktur heraus, unreformierbar.

 

Neue oder andere Netzwerke ändern nach Meschik am Dilemma daher nichts. Was es brauche: entschleunigte Diskursräume, Mut zur Langsamkeit; „Misstrauen gegen die eigene Hochgeschwindigkeitsmeinung“. Präsenzvorträge, Lesungen, Bücher sind solche entschleunigten Formate, die freilich anstrengender sind als ein schneller Online-Kommentar und unserer eigenen Faulheit daher oft zum Opfer fallen. Die Würde der Gemächlichkeit sei übrigens nicht zu verwechseln mit Mangel an Widerspruch. Aber: „Ich erwarte den Respekt, geistvoll kritisiert zu werden.“ Dazu lädt Meschik Leser und Zuhörer ein; auf Augenhöhe.

 

 

Zum Weiterlesen: „Einladung zur Anstrengung. Wie wir miteinander sprechen“ – Beobachtungen des Referenten zur digital geprägten Diskurskultur, vermischt mit Selbstkritik und eigenen Vorsätzen.




Wanderer zwischen beiden Welten


Vortrag von Dr. Rafael Seligmann, 28. April 2022

 

Deutsche und Juden kommen nicht voneinander los, sagt Publizist Rafael Seligmann. Er selbst ist ein lebendes Beispiel; hat alle Schattierungen und Ambivalenzen dieses schwierigen, doch auch schöpferischen Verhältnisses kennengelernt. Historische Einsichten verbindet er mit eigenen Jugenderinnerungen.

 

 

Ohne Bezug zum Ukraine-Krieg kommt derzeit kaum ein Vortrag aus. Ohne historische Vergleiche auch nicht; im Detail oft schwierig, im Abstrakten dennoch erhellend. Putin und Hitler gleichsetzen würde Rafael Seligmann kaum; aber Verwandtschaft erkennt er. Popularität, halb und halb demokratisches Zur-Macht-Kommen, friedliche oder halbfriedliche Erfolge zu Beginn; Geringschätzung für Clausewitz, politisches und militärisches Ungeschick, wenn es ernst wird; und ideologisches Von-gestern-Sein, Denken in uralten Kategorien, die Führerfigur als lebender Anachronismus; Zweifeln, Verzweifeln an der Moderne, eine mächtige intellektuelle Strömung in Russland heute wie in Deutschland und Österreich (und anderswo) um die Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert.

 

Damals auch eine Wurzel des Antisemitismus, da die Juden, als Bildungs- und Wirtschaftselite, wie wenige andere symbolhaft für die Moderne standen. Romantik und Rationalismus als Gegensatz, Richard Wagner und Walther Rathenau als Vertreter zweier Welten, Gemüt gegen Pragmatismus, Gefühl gegen Effizienz. Freilich, so scharf zieht Seligmann die Grenze nicht. Die Juden waren auch sehr deutsch damals. Der eigene Großvater, jenseits der vierzig, meldete sich noch als Freiwilliger für den Ersten Weltkrieg, kaum nur aus rationalen Motiven. Der Vater, 1933 rechtzeitig herausgekommen, wurde in Israel nicht glücklich; vorschriftsgläubig, ordnungsliebend wie er war, kam er im Orient nicht zurecht, auch die Sprache, die Musik fehlte; 1957 siedelt man nach Südbayern und nimmt den zehnjährigen Sohn mit.

 

Seine Erlebnisse kann man nachlesen in Seligmanns Jugenderinnerungen, „Rafi, Judenbub“. Mitunter erschrickt man, wie offen sich antijüdische Vorbehalte damals in Deutschland noch äußerten. Prägend die Schulzeit; Lob für gute Rechenleistungen wird vom Lehrer mit dem Hinweis verbunden, dass man damit im Geschäft ja "deutsche Kunden übervorteilen" könne. Einmal werden die jüdischen Buben von Mitschülern verprügelt; die Beschwerde der Mutter bügelt der Direktor zunächst ab („geht doch nach Palästina“); vom Schulrat zur Räson gebracht, lässt er den Klassenlehrer die Schuldigen dann kräftig züchtigen mit dem Rohrstock, das galt als pädagogisch zulässig... Prägend, später, auch die Vorbehalte gegen eine nichtjüdische Freundin, in beiden Familien; es fällt das böse Wort von der „Rassenschande“. Frei von Hassgefühlen ist diese Kindheit nicht.

 

Rafael Seligmann fühlt sich heute als deutscher Jude. Man ahnt, der Weg muss weit gewesen sein. In Israel, wo er auch viel Zeit verbrachte, ist Seligmann nie gänzlich heimisch geworden. Ungedient, blieb ihm die sehr militarisierte Gesellschaft in Teilen fremd; die deutsche Sprache, die er als Junge lernte, war ihm in Fleisch und Blut übergegangen, den Reichtum an Theatern und Opernhäusern, den er genoss, bot Deutschland zumal. Ob das Verhältnis halten wird auch in schlechteren Zeiten? Seligmann zitiert Albert Einstein mit einer Einsicht, um 1900: Sollte dessen Forschung sich durchsetzen, werde man ihn in Deutschland als Deutschen und in Frankreich als Europäer feiern; sollte er scheitern, ihn in Deutschland als Juden verdammen und in Frankreich als Deutschen. – Doppelidentitäten bleiben stets fragil. Der Antisemitismus ist heute nicht fort, äußert sich, je nach Schicht, nur anders, oft verdeckt. Seligmann ist dennoch voller Hoffnung für die Zukunft; Wachsamkeit, Wehrhaftigkeit aber bleibe geboten – an vielen Fronten.

 

Zum Weiterlesen

Rafi, Judenbub“ – Jugenderinnerungen des Referenten aus den 1950er Jahren, geschildert aus drei Perspektiven, Vater, Mutter, Sohn.





China oder USA?


Vortrag von Ansgar Graw, 21. April 2022

 

Krisenerscheinungen plagen die Mächte des Westens zuletzt ebenso wie die des Ostens. Wer vorne liegt in der globalen Rivalität, ist darum schwer einzuschätzen. Gar zu pessimistisch für Amerika und Europa war Journalist Ansgar Graw in seinen Ausführungen nicht – aus dem fernen Singapur zugeschaltet zu dort nächtlicher Stunde.



Von Zeitenwenden ist zuletzt häufig die Rede. Ansgar Graw, lange Reporter in Washington, setzt eine solche schon am 6. Januar 2021 an, mit dem Sturm radikaler Trumpisten auf das Kapitol mit beiden Häusern des US-Kongresses. Große Teile der US-Republikaner halten die Wahl von 2020 nach wie vor für gefälscht, ein wichtiger Teil Amerikas wird geplagt von Zweifeln am eigenen politischen System. Zweifel brachte auch der westliche Abzug aus Kabul, unter unwürdigen Umständen, eine heftige, symbolträchtige Niederlage. Corona-Einschränkungen, durchbrochene Lieferketten, zuletzt der Ukraine-Krieg mit Sanktionen und Gefährdung der Energieversorgung, schließlich Inflation durch Knappheit und problematische Geldpolitik – das Erfolgsmodell des Westens, ökonomisch wie politisch, steht stärker in Frage denn je. Wahlen in wichtigen Ländern, zuletzt in Frankreich, 2024 wieder in Amerika, lassen jedes Mal einen Kipp-Punkt befürchten, an dem die westlichen Allianzen zerbrechen könnten.

 

Aber anderswo, bei den Autokratien dieser Welt, ist die Lage, nüchtern betrachtet, nicht viel besser. Die Probleme des ruhmreichen russischen Heeres vor Kiew lassen Fragen auch nach der chinesischen Volksbefreiungsarmee aufkommen, friedensverwöhnt, wenig trainiert, wie sie ist; wie sie sich wohl bewähren würde gegen einen kleineren, aber gut ausgerüsteten, motivierten Gegner; wie das chinesische Volk, langsam überalternd, voller 1-Kind-Familien, mit großen Verlusten umgehen? Ökonomisch wird die Volksrepublik absehbar zur Nummer eins der Welt werden, sagt Graw, aber auch ihr droht die demographische Zeitbombe. Nicht die einzige Schwäche. Neomaoistischer Führerkult, zunehmende Machtarroganz, Entkopplung von westlicher Innovation, Folgeschäden der radikalen Zero-Covid-Politik, der Mangel an Soft Skills und Soft Power – immer noch gilt Amerika, nicht China, als Land der Hoffnung, das Einwanderer anzieht; immer noch ist Amerika, nicht China, das Land mit einer großen Zahl echter Verbündeter überall in der Welt.

 

Asien sei kein Monolith, wie der Westen nicht, wie Afrika und Lateinamerika nicht. Chancen sieht Graw für den Westen bei einer aktiven Bündnispolitik, die den Status quo, der freien Handelswege, der freien, nicht einer Vormacht unterworfenen Staaten verteidigt. Auf die Politik gegenüber Indien, zwischen Russland und dem Westen neutral, traditionell im Lager der Blockfreien stehend, werde sehr viel ankommen. Die militärische Übermacht der Amerikaner werde noch eine Weile andauern, aber anderswo gebunden sein, die eigenständige europäische Verteidigungsfähigkeit sei deshalb unverzichtbar; vielleicht, die Diskussion müsse man ehrlich führen, auch mit eigener atomarer Abschreckung. Sich selbst im Wege stehen mit zu starken Skrupeln, sich selbst zu enge Fesseln anlegen etwa mit einem überstrengen Lieferkettengesetz solle der Westen aber nicht; denn andere stünden stets bereit, die Lücke zu füllen, die er hinterlässt. Wertepolitik ja, aber mit Augenmaß, gesundem Menschenverstand und ehrlichem Blick auf die Folgen. Dann stünden die Chancen des Westens, nach Ansgar Graw, durchaus besser als die Untergangspropheten meinen.





Schwarz-Gold-Grau


Vortrag von Prof. Dr. Ulrich Lappenküper, 19. Januar 2022

 

Die kaiserliche Sozialbotschaft vom 17.11.1881, von Reichskanzler Bismarck verfasst und vorgetragen, gilt als Magna Charta in der deutschen Sozialstaatsgeschichte. Schwächen, Unvollkommenheiten, taktische Nebenabsichten in der folgenden Sozialpolitik muss man sehen, aber darüber den Kern der politischen Leistung nicht vergessen – meint Historiker Ulrich Lappenküper.

 

Um Otto von Bismarck ranken sich zahllose Legenden; schwarze und goldene. Oft betreffen sie den gleichen Gegenstand. Die goldene Legende um den Sozialpolitiker Bismarck geht ungefähr so: gerührt vom Elend der Arbeiter, in gutsherrlich-patriarchalischer Verantwortung sei der Reichskanzler zum Vorreiter der Sozialstaatsbewegung geworden, mit den ersten drei Sozialversicherungen als epochalem Reformwerk, wodurch das Deutsche Reich auf diesem Gebiet führend wurde in Europa und der Welt.


Die schwarze geht anders; für das eigentliche Armutsproblem habe der alte ostelbische Reaktionär sich gar nicht interessiert, vielmehr nur – erfolglos – versucht, den aufkommenden Sozialdemokraten die Arbeiterschaft abspenstig zu machen. Seine Sozialversicherungen blieben unzureichend und lückenhaft. Und auf anderen Gebieten, dem Arbeiterschutz und Arbeitsrecht, ging sein Reich keineswegs voran, sondern stand zurück hinter dem, was etwa zur gleichen Zeit in England geschah.


Professor Lappenküper, Geschäftsführer der Otto-von-Bismarck-Stiftung und damit vom Fach, versucht einen Mittelweg. Die Legenden stimmen beide – und beide nicht. Das ursprüngliche Problem hatte Bismarck tatsächlich nicht erfunden; dass die alten Systeme der Armenfürsorge, durch Kirchen und Kommunen, unter den Bedingungen der Industrialisierung nicht mehr trugen, bisher eingeschlagene neue Wege, Hilfskassen der Arbeiter etwa, aber alleine nicht genügten, das war ein verbreitetes Urteil der Zeit. Engagierte Bürger im Verein für Socialpolitik, Bismarcks eigene Beamte wie Theodor Lohmann trieben die Sache voran. Bismarck suchte realistische Lösungen für ein reales Problem; war fachpolitisch, vor allem bei der Unfallversicherung, auch persönlich interessiert.


Vor allem jedoch blieb er ein Machtmensch, dem unter der Hand alles auch taktisches Mittel zum politischen Zweck wurde. Dass die Sozialgesetzgebung allein die Arbeiter bestechen und an den monarchischen Staat binden sollte, wäre aber bereits deshalb zu kurz gedacht, weil Bismarck stets mit mehreren Kugeln zugleich jonglierte. Das Kaiserreich hatte kein parlamentarisches Regierungssystem, aber ein Reichskanzler brauchte dennoch parlamentarische Mehrheiten. Mit den Liberalen, in Sachen Sozialversicherung eher zurückhaltend, auf Selbstorganisation setzend, aber zeitweise geschwächt und gespalten; mit dem Zentrum, eben noch im Kulturkampf hart bekämpft, nun sachte wieder in das System eingebunden; mit den Konservativen, denen die Industriewelt fern, die Zusammenarbeit mit Bismarck in Fragen der Agrarzölle aber neuerdings wieder nahe lag.


Und mit Kaiser und Hofstaat auszukommen hatte Bismarck auch. Dass Wilhelm I. die berühmte „kaiserliche Botschaft“ vom 17. November 1881 nicht höchstselbst vortrug, sondern Bismarck sie verlesen ließ, geschah, wie Professor Lappenküper meint, keineswegs wegen „Unwohlsein“; dem Kaiser passte die Richtung der Politik nicht, der er zu große Nachgiebigkeit gegenüber der revolutionär-marxistischen Sozialdemokratie unterstellte; darum schütze er eine „politische Erkrankung“ vor. – Bismarck war nur eine Kraft von mehreren im politischen Spiel. Zentrale Fragen – etwa zu Finanzierung, Trägerschaft, Pflichtcharakter der neuen Versicherungen – entschied er nicht alleine. Und in dem ganzen Prozess, über acht Jahre hin, wechselten parlamentarische Mehrheiten ebenso wie Bismarcks taktische Nebenmotive mehrfach.


Die Leistung bleibt dennoch epochal, meint Lappenküper; prägt, bei allen Mängeln, allen Reformen seither, im Kern noch das Sozialstaatsprinzip der Bundesrepublik – bis heute. Zu bewerten sei sie aber zuerst aus der Zeit selbst heraus; wie auch Bismarcks eigenes Handeln. Kunstvoll, manchmal künstlich, mit Nebengleisen und doppelten Böden, die man sehen muss; möglichst alle, nicht nur den Teil, der zur schwarzen oder goldenen Legende passt. Grau in vielen Schattierungen ist das Bild, das sich ergibt.

 

Zum Weiterlesen

Mehr über den ersten Reichskanzler unter https://www.bismarck-stiftung.de/




Wer gewinnt in Asien?


Vortrag von Ansgar Graw, 16. Dezember 2021

 

Eifrig paradierten zuletzt westliche Marineschiffe in asiatischen Häfen. Aber Fregatten, U-Boote und Flugzeugträger allein werden den Wettbewerb mit China nicht entscheiden. Der Militärmacht muss innere Stärke entsprechen, analysiert Publizist Graw; technisch, wirtschaftlich und kulturell.

 

Beobachten ist Ansgar Graw gewohnt; berichtete lange Jahre für WELT und WELT am Sonntag aus den Vereinigten Staaten; studiert nun, für die Konrad-Adenauer-Stiftung in Singapur stationiert, das Geschehen im Osten Asiens. Graw ist aber auch, der Ausbildung nach, Historiker; beginnt seine Analyse daher mit historischen Vergleichen, dem Machtverlust früherer Großreiche, Persiens, Roms, der Mongolen und Osmanen, Chinas, des alten, kaiserlichen, des britischen Empire und der UdSSR. Selten nur, resümiert er, ging eine Vorherrschaft in die andere über, ohne Phasen von Teilung, Zerfall, Unordnung dazwischen. Und immer ging dem äußeren Machtverlust eine innere Schwäche, der Mangel an Modernisierungsfähigkeit voran.

 

Solchen Mangel glauben die Chinesen im Westen erkannt zu haben; propagieren es offen, da sie mittlerweile dazu übergegangen sind, westliche Vorwürfe zu Demokratiedefiziten mit dem Hinweis zu kontern, China praktiziere die eigentliche, wirkliche Demokratie, von der es im Westen nur mehr Schein gebe. Dahinter: die Herrschaft des Geldes, „legitimierte Bestechung“ etwa in Wahlkampfspendenform. Materielle Ungleichheit. Rassismus und Identitätspolitik als Spaltung des Volkes, wo in China Einheit und Harmonie herrschten. Graw folgt den Vorwürfen nur zum Teil, auch auf Amerika bezogen; Trump, über den er zwei Bücher schrieb, sei wohl ein Verfallsphänomen, als erfolgreicher Kandidat gerade gegen die Wallstreet und gegen die Großspender aber auch der lebendige Beweis gewesen, dass Geld eben nicht alles kaufen kann.

 

Schwächen erkennt Graw in China selbst. Trotz des Aufstiegs, bis zum Ende dieses Jahrzehnts absehbar zur größten Wirtschaftsmacht der Welt, auch zu einer bedeutenden Militär- und Technologiemacht. Die starke Selbstisolierung als Folge der Zero-Covid-Strategie. Re-Ideologisierung, Neo-Maoismus, Personenkult, die wachsende Kritikunfähigkeit, die das Erfolgsrezept der letzten vier Jahrzehnte bedroht. Und die mangelnde Begeisterung in der Welt für den Chinese Way of Life. China muss sich seinen Einfluss kaufen; „ist eine präsente Macht, aber keine beliebte Macht.“ Kulturell, popkulturell, was Kleidung, Filme und Musik betrifft, hat es wenig Strahlkraft. Einen soliden Block an Verbündeten hat es bislang nicht aufbauen können. Indien, Japan in der Nachbarschaft bleiben Konkurrenten; Russland ein unsicherer Partner; viele Mittelstaaten unentschieden. Selbst Vietnam, ebenfalls von einer kommunistischen Partei regiert, pocht auf seine Eigenständigkeit.

 

Was sich aber ändern kann, wenn der Westen sich aus Asien zurückzieht und, ohne Rückendeckung, diese Staaten sich mit der chinesischen Dominanz arrangieren müssen und werden. Rückendeckung heißt: politische, auch sicherheitspolitische Zuverlässigkeit; heißt Offenheit im Handel; Teilhabe am Fortschritt. Mit dem Propagieren demokratischer Werte allein, berichtet Graw aus Singapur, der autoritär regierten „smartesten Stadt der Welt“, sei es nicht getan. Wirtschaftliche Prosperität, technische Innovationskraft, müssten dazukommen; die Vorzüge freier Gesellschaften mit offenen Märkten. Die Frage, wer in Asien gewinnt, und mit Asien in der Welt, hält Graw noch für offen. Erfolg werde dem Westen aber nur beschieden sein, wenn er sich auf seine Stärken besinnt; alle, nicht nur einen Teil.

 

Zum Weiterlesen

  • „Has China won?“ – Vom Referenten empfohlene Analyse des singapurischen Diplomaten Kishore Mahbubani. Im Buchhandel erhältlich.





Nicht besonderer als sonst


Vortrag von Dr. Thomas Petersen, 24. November 2021

 

Eigenheiten, Eigentümlichkeiten, aber nicht mehr, als andere Wahlen auch schon hatten – die Bundestagswahl 2021 fiel für den Demoskopen des Allensbach-Instituts nicht sehr aus dem größeren historischen Rahmen. Überraschungen bot sie aber doch.

 

Ein wenig Berufsstolz darf man ja zeigen: Dass Allensbach mit der – auch so genannten – Wahlprognose vom Freitag vor dem Urnengang von allen Instituten am nächsten am Zweitstimmenergebnis der Bundestagswahl lag, verschweigt Dr. Petersen natürlich nicht. 0,7 Prozentpunkte mittlere Abweichung bei den im Bundestag vertretenen Parteien sind beinahe eine Punktlandung und mit den bekannten statistischen Schwankungen in dieser Genauigkeit auch wieder ein Glückstreffer. Offenbar aber traf Allensbach mit der traditionellen Methode der persönlichen Befragung die Wählerstimmung diesmal am besten. Dennoch überraschte den altgedienten Demoskopen am Verlauf des Wahljahres so manches.

 

Nicht überraschend: dass die Union nach ihrem Vierzigprozenthoch in der Hochphase der Pandemie wieder abfiel auf ungefähr ihr Vor-Corona-Niveau. Auch nicht: dass die Grünen ihr traditionelles Hochplateau in der Mitte der Legislatur nicht halten konnten, sondern, wie öfter schon, in Richtung Wahltermin wieder deutlich verloren. Überraschend der Wiederaufstieg der SPD; überraschend der dann doch so starke Abfall der Union auf den zweiten Platz. Nicht mehr so überraschend allerdings, wenn man beide Kurven mit dem Eindruck der Geschlossenheit korreliert, den die Wähler von der SPD hatten und von der CDU/CSU nicht; Zerstrittenheit ist das sicherste Vorzeichen einer Wahlniederlage.

 

Freilich fallen überraschende Wendungen nicht so ganz aus dem Rahmen. Petersen konnte historische Beispiele aufführen; 1961 mit der Schockwirkung des Mauerbaus oder 2002 mit der Oderflut, die beide Trendwenden im Wahlkampf einleiteten. In vielem setzte diese Wahl nur langanhaltende Entwicklungen fort: Schwächerwerden der großen Volksparteien, Nachlassen der Parteibindung, Zunahme bei den bis zuletzt Unentschlossenen, bei den Anteilen der „Sonstigen“ und überhaupt in der Zahl der antretenden kleinen Parteien. In vielem, was diskutiert wird, „Spaltung“ der Gesellschaft, konfrontativer Wahlkampf, Personalisierung, Emotionalisierung, auch Demokratiekritik wurden in der Vergangenheit schon höhere Werte gemessen.

 

Neu diesmal: die Regierung, jedenfalls deren Spitze, trat nicht zur Wiederwahl an; erstmals seit 1949. Neu auch die Mischung aus relativ hohem Interesse an der Wahl und ebenso hoher Orientierungslosigkeit der Wähler. Neu die geringe Beliebtheit der Spitzenkandidaten, in deren Schneckenrennen Olaf Scholz bloß der am wenigsten langsame war; „keinen der drei“ für geeignet zu halten, war konstant Auffassung einer relativen Mehrheit.

 

Wie der Trend weitergeht? Schwer zu sagen. Interessant eine Grafik, in der Petersen für die potentielle Anhängerschaft der Union drei Gruppen unterschied: Stammwähler, die keine andere Partei ins Auge fassen; Schwankende, für die auch eine andere Partei in Frage käme; potentieller Zuwachs, der CDU und CSU als zweite Wahl einstuft und sich einen Wechsel wenigstens vorstellen könnte. Alle drei zusammen lagen in den 70er Jahren bei rund 46–47 % und heute bei 42–43 %. Gar so groß ist der Gesamtverlust nicht. Nur sind die Stammwähler im Vergleich zu den Wechselwählern eben stark zurückgegangen. Das macht Vorhersagen schwieriger; endgültige Abgesänge aber wohl auch verfrüht.

 

Zum Weiterlesen

·        Das Ergebnis im Detail, dargestellt vom Bundeswahlleiter: https://www.bundeswahlleiter.de/bundestagswahlen/2021/ergebnisse.html




Gegenoffensive

Vortrag von Marcel Grzanna, 18. November 2021

 

China als Markt für westlichen Demokratieexport – das war gestern. Inzwischen ist die Volksrepublik in der Offensive; erringt mehr und mehr Einfluss, mit blanker Macht, Geld und Technologie. Parteikritischen Diskurs versucht die KP nicht mehr nur im eigenen Land einzuschränken. Wo mag das enden?

 

China-Experte, China-Reporter ist Marcel Grzanna nach seiner Rückkehr aus dem Reich der Mitte geblieben. Nur die Perspektiven haben sich verschoben. Vor einem Jahr, als er schon einmal in dieser Vortragsreihe sprach, lag der Fokus noch auf China selbst; die Entwicklung dort, die wachsende Macht des Parteiführers, der sich in Höhen erhebt, wo bislang nur für Mao höchstselbst Platz gewesen, Überwachungstechnik, Sozialkreditsystem, Arbeitslager und Herrschaft der Angst. Samt der Frage, wo das System dennoch fragil ist, wo dennoch Chancen bestehen auf eine Öffnung, trotz der Akzeptanz, die mit Wirtschaftswachstum und wachsender Weltgeltung die Regierung in Peking derzeit genießt. Ganz hoffnungslos war Grzanna nicht.


Aber mittlerweile ist China im Angriff; müde der westlichen Belehrungen in Menschenrechtsfragen, geht es in die Gegenoffensive und wirkt selbst auf die westlichen Gesellschaften ein. Mit Propaganda; „Wolfskriegern“ in sozialen Medien, die der eigenen Lesart der Dinge zum Durchbruch verhelfen sollen. Mit Institutionen; diverse UNO-Gremien haben die Chinesen erfolgreich gekapert. Mit Technologie; Standards zu setzen, andere abhängig zu machen, nicht nur von Rohstoffen, auch von Software, um das eigene Druckpotential zu erhöhen, ist erklärtes Ziel. Und mit Geld; Investitionen in Infrastruktur, in Unternehmen und Bildungseinrichtungen machen gegenüber dem Geldgeber gefügig, zumal wenn eine einzelne Kommune, Firma oder Hochschule der geballten Macht des chinesischen Staates gegenübersteht.


Ziel, so Grzanna, ist (noch) nicht, den Westen aufzukaufen und zu übernehmen; aber so viel Eigenes in den westlichen Diskurs einzutragen, ihn so sehr zu verwirren, dass er die Wesensunterschiede zwischen Demokratie und Autokratie selbst nicht mehr erkennt. Stark genug, um sich zur Wehr zu setzen, wäre Europa wohl; wach genug scheint es noch nicht zu sein, gemessen an den Mannstärken, die etwa EU-seitig der chinesischen Netzpropaganda entgegengestellt werden, am Zögern, Gegenbündnisse zu schmieden. Freund oder Feind, die Frage stelle sich, nach Grzanna, im Verhältnis zu China nicht; etwas von beidem treffe wohl zu. Augenscheinlich aber ein Halbfreund und Halbfeind, gegenüber dem man in die strategische Defensive geraten ist.



Zum Weiterhören


·    Poking with Chopsticks – Podcast von Marcel Grzanna mit der chinesischen Publizistin Qin Liwen







Programm 2020/21

Termin Ort Top Referent Vortragstitel
10.11.20 Münster Ansgar Graw Journalist & Publizist Die Grünen jetzt schon an der Macht?
12.11.20 Gießen Marcel Grzanna Journalist & Autor Wie funktioniert der größte Überwachungsstaat der Welt?
10.12.20 Halle Dr. Stefan Eisel Politikberater 30-Jahre Wiedervereinigung - Einblicke aus dem Kanzleramt
10.02.21 Würzburg Rafael Seligmann Politologe & Zeithistoriker 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland - kann ein Jude Deutscher sein?
18.02.21 Leoben Dr. Michael Lüders Politik- und Islamwissenschaftler Der politische Islam in der offenen Gesellschaft
09.03.21 Göttingen Prof. Dr. Ulrich Lappenküper Otto-von-Bismarck-Stiftung Bismarck heute
18.05.21 Münster Prof. Dr. Max Kerner Historiker Brennende Pariser Kathedrale Notre-Dame - ein Symbol für Europa?
26.05.21 München Julia Friedrichs Journalistin Working Class - Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können
01.06.21 Mainz Kolja Zydatiss Journalist & Autor Cancel Culture: Demokratie in Gefahr
10.06.21 Karlsruhe Prof. Dr. Max Kerner Historiker Europa: Une forme fragile
16.06.21 Deggendorf Dr. habil. Thomas Petersen Meinungsforscher Die politische Stimmung, drei Monate vor der Bundestagswahl

Die politische Stimmung drei Monate vor der Bundestagswahl

Vortrag von Dr. Thomas Petersen, 16. Juni 2021

 

Kein heiteres Ergebnisraten, sondern eine Vermessung der politischen Themenlandschaft verspricht derzeit den größten Erkenntnisgewinn. Blick in den aktuellen Zahlenstand mit einem Fachmann des Instituts für Demoskopie Allensbach.

 

Hinterher ist man immer klüger. Demoskopen haben den Nachteil, dass ihre Vorhersagen – oder, wie sie vorsichtiger sagen, Stimmungsbilder – am Wahlabend einer harten Überprüfung standhalten müssen. Mitunter tun sie das nicht, z. B. zuletzt in Sachsen-Anhalt; das macht für eine Weile demütig und zurückhaltend. Thomas Petersen, obwohl sein Institut am Magdeburger Wählerraten unbeteiligt war, wollte keine Prognose angeben zum Ausgang der Bundestagswahl; drei Monate entfernt, unendlich viel Zeit, so schnellebig, wie der politische Betrieb geworden ist, kaum begonnen hat der eigentliche Wahlkampf. Einige Trends, immerhin, zeigen sich, die der eine mutiger, der andere vorsichtiger deuten mag.


Trend Nummer eins: Normalisierung. Die Parteien sind nach viel Auf und Ab ungefähr dort wieder angekommen, wo sie „vor Corona“ standen, ehe die Stunde der Exekutive schlug und, wie fast überall, die Umfragewerte der führenden Regierungspartei nach oben schnellten. Die Union knapp unter dreißig; die Grünen knapp über, die SPD knapp unter zwanzig; FDP, AfD, Linke plus minus bei zehn Prozent. Überwunden auch die Tiefphase von CDU/CSU nach Kandidatenstreit und dem größten Ärger über das Corona-Missmanagement; letzterer, mit Sommerwetter, fortschreitenden Impfungen, weitgehender Lockerung der Restriktionen, dürfte sich weiter abmildern.


Normalisiert auch die Verteilung der Themen, die von den Bürgern für politisch relevant gehalten werden. Die Pandemie fällt langsam zurück, anderes rückt nach vorne; Umwelt- und Klimaschutz auch, aber nicht alleine, auch bei den Jungen nicht. Anderes, was weniger medialen Raum einnimmt, Migrationspolitik, Rentenpolitik, Digitalisierung, liegt inzwischen beinahe gleichauf. Wechselstimmung herrscht wohl, aber nicht viel mehr, als früher schon gemessen wurde. Und wohin scheint unklar; wenngleich viele vom schwarzgrünen Bündnis sprechen, tendieren die jeweiligen Parteianhänger doch in sehr verschiedene Richtungen.


Trend Nummer zwei: der normale Zyklus innerhalb von Wahlperioden, nach denen zum Wahltermin hin das Auftreten der Politiker und Parteien selbst an Bedeutung gewinnt gegenüber der medialen Berichterstattung. Früher nannte man das Kohl-Effekt; zwei Jahre vor der Wahl lag der ewige Kanzler regelmäßig weit in Umfragen zurück, es dominierte die Presseberichterstattung über ihn, der bei Zeitungs- und Fernsehredaktionen nicht als sehr beliebt galt. Im Wahlkampf hörte man ihn wieder selbst in längeren Passagen und urteilte dann oft anders. Die Grünen, in unseren Tagen, erleiden regelmäßig einen umgekehrten Effekt. Sehr entscheidend dürfte daher werden, wieviel Profil ihre Kandidatin noch gewinnen kann.


Freilich sind Umfragen keine Wahlen; Politiker, die nach Umfragen regieren, erleiden regelmäßig Schiffbruch. Größeren Erfolg, so Dr. Petersen, haben Politiker, die wissen, wohin sie wollen, und Umfragen wie ein Echolot verwenden, das anzeigt, was dem Wahlvolk wann zumutbar ist; die Taktik beeinflusst, aber nicht die Strategie. Wer das mehr beherzigt, Laschet, Baerbock, Scholz, wird noch interessant zu beobachten sein.



Zum Weiterlesen


·        Elisabeth Noelle-Neumann, Thomas Petersen: Alle, nicht jeder. Einführung in die Methoden der Demoskopie

·        Thomas Petersen: PR-Arbeit in der Antike. Wie Augustus zum vielleicht erfolgreichsten Politiker aller Zeiten wurde




Brüchig und zerbrechlich

Vortrag von Prof. Dr. Max Kerner, 10. Juni 2021

 

Kann Europa sein Erbe wieder fruchtbar machen, sich aus seiner melancholischen Abendstimmung befreien und zur Weltkultur noch etwas beitragen? Möglicherweise, hofft Professor Kerner. Aber mühsam wird es.

 

Eine Vitaminspritze könnte nicht schaden. Die Dynamik der Weltbewegung liegt derzeit anderswo. Europa, „vergreisend, schrumpfend, müde, marginalisiert“, hat Mühe, Schritt zu halten. Nach außen geht sein Einfluss zurück, ablesbar am Anteil an der Erdbevölkerung; um 1900, als Europa die Welt dominierte, waren es über zwanzig Prozent, 2100 werden es wahrscheinlich unter fünf Prozent sein. Nach innen geht es mit der europäischen Einigung nicht recht voran, Gegenbewegungen, in England, in Ostmitteleuropa, erzielten zuletzt erhebliche Erfolge. Selbstzweifel plagen die Europäer auch in ihrem eigenen Geschichtsbild; „kritische Aufarbeitung“ kehrt die Schattenseiten hervor, Krieg, Eroberung, Unterdrückung, Armut und Not statt der großen Errungenschaften, Aufklärung, Parlamentarismus, Rechts- und Sozialstaat, statt der großen Kulturleistungen in Literatur und Musik, Kunst und Architektur.

 

Professor Kerner ist Historiker; naturgemäß geht sein Blick eher zurück als nach vorne, beziehungsweise auf die Kontinuitäten vom Gestern zum Morgen. Gewiss, beschwert durch die „Last der Barbarei“, die Großverbrechen des zwanzigsten Jahrhunderts, geht es ihm um „aufgeklärte Erinnerung“, den „richtigen Gebrauch unserer Traditionen“. Welche das sind? Kerner nennt drei; Christentum und Kirche, Nation und Nationalität, Rationalität und Wissenschaft als Denkform. Während das Christentum im Schwinden ist, der Trend zur interreligiösen Zusammenarbeit geht wie im Berliner „House of One“, während die Nationalität zur europäischen Einigung in einem dialektischen Spannungsverhältnis steht, sieht Kerner Rationalität und Wissenschaft gefordert durch die Bewältigung der Klimakrise und die anstehenden Fragen des Transhumanismus, freilich stets gepaart mit ethischer Einordnung und damit auch älteren Wertvorstellungen.


Wie der Richter in Lessings Ringparabel feststellt – „Der Streit um das Wahre wird nicht entscheidbar sein“ – sei auch die Frage nach dem „richtigen“ Europabild niemals zu Ende; jede Generation malt das Bild weiter, doch bleibt es „ewig unfertig“. Kerner rät, den Blick auf das Gemeinsame zu richten; „Wahr ist, was uns verbindet“. Im Bereich der Werte eine aufgeklärte Vernunft, liberale Toleranz und robuste Zivilität. Im Bereich der Traditionen ein großer kultureller Schatz, den zu „re-imaginieren“, für unsere heutigen Augen gleichsam zu übersetzen, stets herausfordernd und oft vergeblich bleiben wird wie die Arbeit des Sisyphos; von dem Camus bekanntlich meinte, man müsse ihn sich als glücklichen Menschen vorstellen, weil er trotz der Einsicht in Vergeblichkeit und Vergänglichkeit von seiner Tätigkeit erfüllt sei. Viele einzelne, die so sich mühen, „Kultur von unten leben“ statt auf die Staatsspitzen zu warten, das sei die Hoffnung, die Europa bleibt.



Zum Weiterlesen einige Buchempfehlungen des Referenten


·        Simone Veil: Une vie (2007)

·        George Steiner: The Idea of Europe (2015)

·        Jan Assmann: Achsenzeit. Eine Archäologie der Moderne (2018)

·        Aleida Assmann: Der europäische Traum: Vier Lehren aus der Geschichte (2018)




Cancel Culture

Vortrag von Kolja Zydatiss, 1. Juni 2021

 

Kleine, aber wirkmächtige Gruppen von Aktivisten streben nicht nach freier Diskussion, sondern nach sozialer Vernichtung des moralisch für minderwertig befundenen Gegners. Oft mit Erfolg; politische Debatte und Demokratie insgesamt nehmen Schaden.

So der Neurowissenschaftler, Statistiker und freie Journalist Kolja Zydatiss.

 

Das Wort ist sperrig; bisher vorgeschlagene Alternativen allerdings nicht weniger. „Cancel Culture“, „call-out-culture“, „deplatforming“ – Löschen, Ausgrenzen, Keine-Bühne-Geben. Anglizismen scheinen angemessen, weil das Phänomen, aus Amerika und England kommend, zu uns herüberschwappt. Gemeint ist, in Variationen, immer ungefähr das gleiche. Wer zu weit – oft nicht sehr weit – aus einem erlaubten Meinungskorridor herauszutreten wagt, muss Folgen fürchten, die mehr sind als nur verbal; Boykott, Verlust des Ansehens oder Arbeitsplatzes, Kontaktvermeidung bis ins private Umfeld; gelegentlich Gefahr für das Eigentum, sehr gelegentlich auch für die physische Gesundheit.

 

Skeptiker sagen: Das Phänomen gibt es nicht oder kaum; manche Diskutanten, zur Wehleidigkeit neigend, verwechselten nur heftigen Widerspruch mit „Löschen“; oder es treffe primär solche Meinungen („rassistisch“, „faschistisch“), die sich tatsächlich außerhalb jeder Diskussion bewegten. Zydatiss beginnt daher jede seiner Darstellungen mit einer Reihe von Beispielen; Wissenschaftlern, Sportlern, Kulturfunktionären, die wirklich berufliche Nachteile erlitten infolge von Meinungsäußerungen, und zwar in der Regel völlig harmlosen; oder Debatten, etwa rund um die „Allesdichtmachen“-Aktion einiger deutscher Schauspieler zur Corona-Politik, in denen allein die öffentliche Androhung solcher Konsequenzen manche schnell von der Fahne gehen ließ.

 

Zydatiss sieht eine Zunahme solcher Fälle; getrieben von dem, was er philosophisch „Krise des Subjekts“ und „radikale Desillusionierung bezüglich der Menschheit und ihrer Fähigkeit zu verantwortlicher Freiheit“ nennt. Das alte, optimistische Menschenbild der Aufklärung sei im Schwinden; nach Weltkriegen, Totalitarismus, Umweltzerstörung und anderen menschlichen Fehlleistungen ein Trend sichtbar zu Paternalismus und betreutem Denken. Wobei das Ziel der gesteuerten Entwicklung, die Welt als großes New York, kreativ, offen, bunt, klar erkennbar und damit die Neigung zur Ausgrenzung größer sei, weil Teleologie und der Glaube, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen, sehr unduldsam machen gegenüber den Gestrigen; über die normale menschliche Neigung, Macht zu missbrauchen, andere zur Seite zu drängen, deutlich hinausgehend.

 

Dass der demokratische Prozess, der immer ergebnisoffen bleiben muss, darunter leide, sei offenkundig; ohne freien Diskurs auf Augenhöhe kein produktiver Wettbewerb der Ideen möglich. Was also tun? Standhaft bleiben, rät Zydatiss den Betroffenen. Nicht nachgeben, nicht entschuldigen, „ich kann und will nicht widerrufen“; den Cancelern keinen Erfolg gönnen, der sie nur weiter antreibt. Fälle öffentlich machen und um Solidarität werben. Gegennetzwerke gründen, für freien akademischen Austausch etwa, bis hin zu Solidaritätsfonds. Ob das genügen wird in immer hitzigeren Zeiten, bleibt abzuwarten.


Zum Weiterlesen.

·        Buchpublikation des Referenten: Cancel Culture: Demokratie in Gefahr (2021)

·        Blog des Referenten und des Journalisten Thilo Spahl mit einer Sammlung von Cancel-Culture-Fällen im deutschsprachigen Raum: https://cancelculture.de/




Working Class

Vortrag von Julia Friedrichs, 26. Mai 2021

 

Abkapselung gibt es nicht nur in Meinungsblasen. Auch soziale Schichten separieren sich nach wie vor.

Um Einblicke in eine andere Welt bemüht sich Julia Friedrichs.


Der Arbeiter, sagt man, sei am Aussterben; soziologisch, demoskopisch eine Schrumpfgröße, wovon seine Vertreter, in Gewerkschaften, in Parteien, jedes Mal ein Klagelied singen können, wenn es zur Auszählung kommt. Im traditionellen Sinn – des Fabrikarbeiters – stimmt das wohl auch; viele Fertigungsschritte sind abgewandert oder werden heute von Maschinen übernommen. In einem anderen Verständnis, desjenigen, der von seiner Arbeit leben muss, und nur von ihr, stimmt die These vom Aussterben nicht. Nur dass diese „working class“ heute überwiegend im Dienstleistungssektor zu finden ist und die verbliebenen Industriearbeiter mit ihr verglichen geradezu einen privilegierten Status genießen.


Julia Friedrichs ist Reporterin, studiert ihren Gegenstand am Beispiel; so geschildert in Buch und Vortrag. Ein Berliner U-Bahn-Stationen-Reiniger, zwei Musiklehrer, ein Marktforscher (meint: Excel-Arbeiter). Sehr verschieden nach Bildungsgang und Ansehen des Berufs; ähnlich nach den Vermögensverhältnissen. Wenig Eigentum; wenig Reserven gegen unerwartete Ausgaben. Doppelte Armutsrisiken aber: Dienstleistungsberuf; mehrere Kinder. Mühsames Rechnen zum Monatsende. Von der Pandemie gebeutelter als andere; exponiert, weil unvermeidlich im Beruf mit Menschenkontakt, oder kurzfristig entbehrlich und im Zweifel ohne Einkommen. Als Verstärker, nicht Minderer der Ungleichheit wirkt der Ausnahmezustand.


Wendepunkt im Geschehen, aus der Ferne betrachtet, seien die achtziger Jahre der alten Bundesrepublik gewesen; Endpunkt des „sozialdemokratischen Kapitalismus“. Seither: größere Diskrepanz der Vermögen, Zunahme von Leiharbeit und prekärer Beschäftigung, schrittweises Unmöglichwerden der Einverdienerfamilie als auskömmliches Lebensmodell. Wachsende Belastung durch Mieten, Mehrwertsteuer, Sozialabgaben. Nullzinsen für Kleinsparer. Zurückdrängung der klassischen Laufbahnen, Auslagern von Funktionen in Dienstleistungsfirmen ohne Umstieg- und Aufstiegsmöglichkeit. Die Normalität, die Eltern sozial und ökonomisch zu übertreffen, schwindet.


Woran es fehlt? Friedrichs sagt: stärkere Belastung von Vermögen, geringere von Arbeitseinkommen durch den Staat. Nicht Grundeinkommen für alle, aber eine Kindergrundsicherung. Größere Wertschätzung von Dienstleistungsberufen durch die Gesellschaft, was auch Zahlungsbereitschaft beinhalten muss. In der betroffenen Gruppe aber auch Zusammenhalt; anders als die Arbeiter früherer Zeiten ist sie unorganisiert, hat keine Durchschlagskraft. „Atomistische Einzelkämpfer“ finden wenig Gehör in der Politik. Dabei hätten sie wohl einen Hebel, da viele der Tätigkeiten nicht wegdigitalisiert oder ins Ausland wegverlagert werden können, doch keiner nimmt ihn in die Hand. Arbeiter aller Länder, vereinigt euch? Noch, gewinnt man den Eindruck aus den Schilderungen, gelingt es kaum in einer einzelnen Stadt.

 

Zum Weiterlesen einige Publikationen der Referentin

·       Deutschlands dritte Klasse – Leben in der Unterschicht (2009)

·       Wir Erben. Was Geld mit Menschen macht (2015)

·       Working Class. Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können (2021)




Notre-Dame in Flammen – Symbol für Europa?

Vortrag von Prof. Dr. Max Kerner, 18. Mai 2021

 

Die Pariser Kathedrale ist mehr als nur der geographische Nullpunkt Frankreichs; in ihr laufen verschiedene historische Traditionslinien zusammen, ebenso wie identitätspolitische Streitlinien der Gegenwart. Das Ringen um sie sieht Professor Kerner ähnlich in ganz Europa im Gang.


„Es brannte offenbar mehr als nur ein altes Gebälk“ an jenem 15. April 2019. Notre-Dame de Paris ist, ähnlich wie der Eiffelturm, französisches Nationalsymbol; freilich eines, das selber schon auf älterer Symbolik gründet, was der kundige Mediävist natürlich zu berichten wusste. Zuerst und die längste Zeit war Notre-Dame vor allem eine Kirche; zur Zeit der Bourbonen im nationalsymbolischen Rang eher zurückstehend hinter Reims und St. Denis, den Krönungs- und Grabeskirchen der Könige. Dafür aber mit starker christlicher Sinnaussage, am sichtbarsten in den verwahrten Reliquien und am Weltgerichtsportal: Führung der Seelen durch Propheten und Heilige auf dem unsicheren Weg von dieser Welt in die nächste.


Das herausragende Symbol der Nation wurde Notre-Dame erst in der neueren Geschichte. Umkämpft in der Revolutionszeit, von den Antiklerikalen umgeweiht zum Tempel der Vernunft, von Napoleon wieder in eine Kirche verwandelt, wo er seine Kaiserkrönung zelebrierte; von Victor Hugo im Roman zum Sinnbild des Epochenwandels mythisiert, von Viollet-le-Duc aufwendig saniert, wird die Kirche zum Ort, an dem die Nation sich ihrer selbst versichert und ihre Großen ehrt, verstorbene Präsidenten und Marschälle etwa durch Staatsakte. Daneben bleibt die ältere katholische Traditionslinie aber bestehen; sichtbar noch während des Brandes, als eine Gruppe traurig-trotziger Zuseher Marienlieder sang, eine andere die Marseillaise.


So steht die ausgebrannte Kathedrale heute auch symbolisch für wachsende Verunsicherung. Mit dem Niedergang des Katholizismus zur schrumpfenden, durch islamistischen Terror auch zunehmend physisch bedrohten Minderheit geht ein Verlust an kultureller Kohäsion einher, der auch die laizistische Republik an sich selbst unsicher werden lässt, wovon pessimistische Literatur, weit über Houellebecq hinaus, zuletzt reichlich Zeugnis gab. Selbstverständlichkeiten werden zweifelhaft, Traditionen reduziert auf Fassaden ohne Inhalt, ohne dass an ihrer Stelle neue entstünden. Was für Professor Kerner in ähnlicher Weise für ganz Europa gilt, dem eine gemeinsame kulturelle Idee weitgehend fehle, über das hinaus, was Präsident Macron bei einer Aachener Rede einmal „vertraute Fremdheit“ nannte.


Das kulturelle Erbe Europas zu re-imaginieren, zeitgemäß neu zu deuten, ist freilich nichts, was Präsidenten verordnen können, es müsste wachsen in der Gesellschaft, in Schulen, Hochschulen, Vereinen. Mühsame Sisyphos-Arbeit vieler bräuchte es dazu. Aber für aussichtslos hielt Professor Kerner diese Mühen durchaus nicht.


Zum Weiterlesen einige Buchempfehlungen des Referenten

·       Agnès Poirier: Note-Dame: Die Seele Frankreichs (2020)

·       Denis Pelletier: Les Catholiques en France de 1789 à nos jours (2019)

·       Jérôme Fourquet: L'archipel français (2019)




Bismarck heute

Vortrag von Prof. Dr. Ulrich Lappenküper, Historiker und Geschäftsführer der Otto-von-Bismarck-Stiftung, 9. März 2021

 

Bismarck gehört zu den besterforschten Figuren der deutschen Geschichte. Neue Fakten finden Historiker nur noch selten. Aber neue Deutungen, die sich über die Zeit vor allem darin unterscheiden, wieviel von welcher Gegenwart man im ersten Reichskanzler wiedererkennt.


Die historische Aufmerksamkeitsökonomie funktioniert überwiegend über Jahrestage. Mitunter gibt es da gewisse Häufungen. Bei den französischen Nachbarn lagen 200 Jahre der endgültigen Niederlage Napoleons bei Waterloo, 250. Geburtstag, 200. Todestag des Kaisers alle zwischen 2015 und 2021. Bei uns Bismarcks 200. Geburtstag, 100 Jahre Erster Weltkrieg und Ende des Kaiserreichs sowie der 150. Jahrestag seiner Gründung alle zwischen 2014 und 2021. Entsprechend gefüllt waren links wie rechts des Rheins zuletzt die Regale der Buchhandlungen mit Neuerscheinungen zu diesen schon oft behandelten Ereignissen und Gestalten.


Bismarck lässt die Deutschen so wenig los wie Napoleon die Franzosen. Kritische Historiker arbeiten sich immer noch an Mythen ab, die selber über hundert Jahre alt sind, in Bismarcks Fall: des überlebensgroßen Reichsgründers und Vaters der Nation. Wobei es zwei Richtungen gibt: die einen lassen die Größe stehen und verkehren sie ins Dämonische, zum gewaltaffinen Kriegstreiber in einer bösen historischen Kontinuität; die anderen betonen das Normale, sehen in Bismarck einen eher mittelmäßig begabten Politiker, dessen Erfolge mehr den historischen Gegebenheiten und Zufällen geschuldet seien als seinem eigenen Wirken.


Die Verteidiger, wozu man bei aller Differenzierung Professor Lappenküper zählen kann, argumentieren dann spiegelverkehrt. Betonen ebenfalls das Normale, allerdings dergestalt, dass listige Diplomatie mit Krieg als ultima ratio damals für alle Staatsmänner das Mittel der Wahl, Bismarck darin nur geschickter und erfolgreicher als andere war. Und betonen ebenfalls die Kontinuitäten, nur eben mit Fokus auf solchen, die bis heute reichen, Nationalstaat, Rechtsstaat, Sozialstaat und – immerhin in den späteren zwei Dritteln der Amtszeit – Friedenspolitik und Interessenausgleich. Bei gleicher Quellenlage entstehen so mit verschiedenen Perspektiven sehr verschiedene Interpretationen. Daher wird, mit schwankender Gewichtung, bei der nächsten Serie von Jahrestagen wohl das gleiche Schauspiel wieder zu beobachten sein.

 

Zum Weiterlesen

·       Michael Epkenhans, Ulrich Lappenküper, Andreas von Seggern: Otto von Bismarck: Aufbruch in die Moderne (2015)




Politischer Islam in der offenen Gesellschaft

Vortrag von Dr. Michael Lüders, 18. Februar 2021


Spannendes Referat und niveauvolle Diskussion bei vielfältigen Meinungen: so wünscht man es sich. Aufklärung bei einem Thema, über das eine Unmenge Halbwissen im Umlauf ist. Differenzieren ohne Differenzen zu verwischen.

Abende mit Michael Lüders sind immer ein Gewinn.


Auf der Rangliste emotional aufgeladener Diskussionsthemen steht „politischer Islam“ recht weit oben; in wenigen anderen Bereichen wird so polarisiert und schnell in Schubladen eingeteilt wie hier. Zwei prägnant-kritische Sätze, einmal Applaus von der falschen Seite, und man trägt das Etikett „islamophob“; einmal zu oft beschwichtigt, um Verständnis geworben, und man ist „Islamversteher“. Michael Lüders, Orientalist, Publizist, gilt als letzterer. Wobei er den unverdächtigen Teil, „Verstehen“, ganz gewiss erfüllt; der Mann kennt sich aus, durch Literaturstudium ebenso wie Anschauung vor Ort. Seine Filme und zahlreiche Bücher geben davon Zeugnis.


Dass es „den“ Islam nicht gibt, bei vierzehnhundert Jahren Geschichte, mehr als einer Milliarde Gläubige über Dutzende Länder und mehrere Kontinente, ist eigentlich eine Platitüde. Lüders wird trotzdem nicht müde, sie zu betonen, die Unterteilung vorzunehmen in Konfessionen und theologische Schulen, verschiedene Stufen von einfacher Volksfrömmigkeit bis zum staatsnahen Klerus; da es Kritik ja durchaus gibt, die „den“ Islam aufgrund dieses oder jenes Koranzitates überall und für alle Zeiten so und so für festgelegt hält, wohl dennoch kein überflüssiges Unterfangen.


„Politischer Islam“ ist für Lüders ein historisch eher junges Phänomen, rund einhundert Jahre alt, beginnend mit der Muslimbruderschaft in Ägypten, deutlich abzugrenzen vom traditionellen Anspruch der Religion, auch viele weltliche Angelegenheiten der Gläubigen mitzubestimmen. Angetrieben vom Widerstand gegen übergroßen westlichen Einfluss, damals durch Kolonialmächte, heute durch amerikanische Großmachtpolitik im Nahen Osten; auch vom Widerstand gegen obrigkeitliche politische Strukturen in islamischen Ländern, zu denen die traditionelle Geistlichkeit gehört; mehr ein nationalistisches Aufbegehren eigentlich als ein religiöses.


Den Erfolg dieser Strömung erklärt sich Lüders denn auch im wesentlichen mit politischen und sozialen Faktoren, nicht mit religiösen. Zugleich autokratische und schwache Staaten, Rückstände in Bildung und wirtschaftlicher Entwicklung, Demographie, Jugendarbeitslosigkeit; eine gesellschaftliche Entwicklung, die in vielem, nicht nur im Frauenbild, zur westlichen um einige Generationen zeitversetzt erfolgt; bei jenen, die über Migration in westliche Länder kamen, auch in zweiter und dritter Generation oft ein Gefühl von sozialer Deklassierung und Ausgegrenztsein. Insgesamt ein fruchtbarer Nährboden für politischen Radikalismus, der die Religion als Identitätsangebot gerne annimmt, weil sie da ist, sich aber auch ohne sie Wege und Kanäle suchen würde.


Inwieweit die Religion selbst dazu beiträgt, diesen Zustand zu zementieren, den Nährboden fruchtbar zu halten, bleibt freilich offen. Hier liegt der fließende Übergang von „Verstehen“ und „Verständnis“; Lüders‘ Erklärungen, jedenfalls vor westlichem Publikum, fokussieren stark auf westliche Politik, unglückliche Militärinterventionen in islamischen Ländern, ungeschickte Übertreibungen etwa in der französischen Innenpolitik im Kampf gegen islamistischen Terrorismus; die eskalierende Wirkung gewiss haben, die sich klarzumachen und die eigene Politik damit zu hinterfragen gewiss auch einen positiven, aufklärerischen Beitrag leistet. Fragt man aber nach der Gewichtung, beginnt ein streitiger Diskurs. Ihn zu führen lohnt sich, ganz ohne Schubladen und Scheuklappen. Offene Gesellschaft gibt es nicht ohne offene Aussprache.


Zum Weiterlesen einige Werken des Referenten

·       Sachbuch: Im Herzen Arabiens (2004), Wer den Wind sät (2015), Die den Sturm ernten (2017)

·       Roman: Aminas Restaurant (2006), Never say anything (2017)




1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland

Vortrag von  Dr. Rafael Seligmann, 10. Februar 2021

 

Kann man zugleich Deutscher und Jude sein? Der Publizist Rafael Seligmann, kurz nach dem Krieg in Israel geboren, im Alter von zehn nach Deutschland gekommen, nun Herausgeber der „Jewish Voice from Germany“, sagt selbstverständlich ja – trotz Belastungen in Geschichte und Gegenwart.


Das Jubiläum, das nun vielerorts begangen wird, ist etwas großzügig gerechnet. „1700 jüdisches Leben in Deutschland“ bezieht sich auf ein Edikt Kaiser Konstantins, welches belegt, dass 321 n. Chr. in der Stadt Colonia Agrippina in der römischen Provinz Niedergermanien eine jüdische Gemeinde bestand. Von Deutschen oder Deutschland war damals natürlich noch lange nicht die Rede. Die kamen später, viele Jahrhunderte später. Ein Deutschland ohne Juden gab es nie. Ob sie als Deutsche sich ansahen und angesehen wurde, schwankte freilich über die Zeit, je nachdem, wie die Deutschen insgesamt sich verstanden.


Rafael Seligmann wird, auch wegen seiner Haltung zu Clausewitz’scher Strategie und zur israelischen Sicherheitspolitik, eher zum konservativen Flügel der jüdischen Intellektuellen gezählt, dem auch Begriffe wie Patriotismus und militärischer Heroismus keine Furcht einflößen. Bedenken dabei muss man freilich, dass die israelische Gesellschaft eine sehr bunte und weltoffene, ihr Patriotismus ein einladender, kein ausgrenzender ist. Ein Deutschland, das sich ähnlich begreift, ohne sein Nationalbewusstsein zu verengen und ein Übermaß an Homogenität anzustreben, wie es zeitweise der Fall war, kann natürlich auch Juden eine gute Heimat sein.


Freilich gehören für Seligmann zur offenen, bunten Gesellschaft auch Konflikte, die nicht durch allgemeine Wohlfühlphrasen überdeckt werden sollten und auf Dauer auch nicht können. Seine Rhetorik ist robust, in alle Richtungen. Er schont niemanden, sich nicht und die anderen nicht. Wehrhaftigkeit, Wehrbewusstsein gehören für ihn selbstverständlich zu einer freien Gesellschaft, weil sie anders ihre Freiheit nicht verteidigen kann; was Zugehörigkeitsgefühl und Bürgersinn voraussetzt. Offenheit und Einladung zum Dazugehören gehören zu den Pflichten der Gesellschaft; übermäßig sensibel denen gegenüber zu sein, welche die Einladung partout nicht annehmen möchten, gehört nicht dazu. Offenheit und eine gewisse Härte sind nicht Gegensätze, sondern bedingen einander. 


Wenn Seligmann dem deutschen Staat in diesem Jubiläumsjahr etwas vorwirft, ist es daher weniger ein Mangel an philosemitischen Fest- und Gedenkansprachen als ein Mangel an Konsequenz im Umgang mit den Feinden der offenen Gesellschaft.

 

Zum Weiterlesen einige Werken des Referenten

·       Autobiographie: Deutschland wird dir gefallen (2010)

·       Romane über Juden, Deutsche und kollektive Psychologie: Der Musterjude (1997), Deutsch meschugge (2017)




30 Jahre Wiedervereinigung – Einblicke aus dem Kanzleramt

Vortrag von Dr. Stefan Eisel, 10. Dezember 2020

 

Gerade in den großen historischen Momenten lohnt sich der Blick hinter die Kulissen. Wo nach Außen große Worte und Gesten regieren, herrschen im Innern oft Verwirrung und organisatorisches Durcheinander. Stefan Eisel saß im November 1989 im Bonner Kanzleramt und wurde so Zeuge historischer Ereignisse.

 

Um den 9. November 1989 herum herrschte augenscheinlich überall Chaos. Bekannt, wie Günter Schabowski, halbinformiert, der Welt die Öffnung der Mauer versehentlich „ab sofort, unverzüglich“ verkündete und so an den Grenzübergängen eine völlig unklare Befehlslage entstand. Weniger bekannt, in welche organisatorischen Nöte der westdeutsche Bundeskanzler Helmut Kohl dadurch geriet, der die zunehmenden Auflösungserscheinungen in DDR und Ostblock insgesamt in den vergangenen Monaten natürlich verfolgt hatte, sich just an diesem Abend aber auf Staatsbesuch in Warschau befand. Berlins Regierender Bürgermeister Walter Momper, SPD, verkündete ohne Absprache einen Auftritt des Kanzlers am Schöneberger Rathaus für den Folgetag. An Stefan Eisel, damals Mitarbeiter im Bonner Kanzleramt, lag es, die Reise nach Berlin kurzfristig zu organisieren

 

Was sich schwieriger gestaltete, als man heute denken würde. Denn aufgrund des Viermächte-Abkommens durfte eine westdeutsche Regierungsmaschine nicht einfach Berlin anfliegen; das war nur alliierten Flugzeugen gestattet, die westdeutsche Regierungsmitglieder dafür benutzen konnten. Kohl musste also zunächst nach Westdeutschland geflogen werden; nach Hamburg. Mit kleinem Umweg über Schweden, weil auch der Luftraum der DDR für westdeutsche Maschinen natürlich tabu war. Für Hamburg mühte sich Eisel nun, eine alliierte Maschine zu erhalten; wobei die hilfsbereiten Amerikaner zunächst am einen Standort Flugzeug ohne Besatzung, am zweiten Besatzung ohne Flugzeug verfügbar hatten und Eisel sicherheitshalber noch eine dritte, britische Maschine anfragte. Am Ende wurde es doch eine amerikanische, und Kohl kam rechtzeitig ans Schöneberger Rathaus; wo, wie er später sich erinnerte, „ein linker Pöbel“ ihn beharrlich auspfiff und die Szene beherrschte, weil die Berliner CDU ihre Anhängerschaft am falschen Ort mobilisiert hatte …

 

Eisels Schilderungen in der Nahaufnahme zeigen, wie sehr an entscheidenden Wendepunkten Zufall, Improvisation, Kommunikationspannen eine Rolle spielen, wie die langen Linien der großen Politik oft von geschickter Detailorganisation abhängen können. Ganz ähnliches findet, wer in den richtigen Geschichtsbüchern stöbert, zum Beispiel für 1871 in Versailles oder 1918 in München. An die völlige Planbarkeit und Beherrschbarkeit des politischen Betriebs, samt dahinterstehenden Einflussgrößen und Interessengruppen, glaubt man nachher auch in „normalen“ Zeiten nicht mehr.

 

Zum Weiterlesen: Buchpublikation des Referenten

·        Helmut Kohl – Nahaufnahme (2010)




Wie funktioniert der größte Überwachungsstaat der Welt?

Vortrag von Marcel Grzanna, 12. November 2020


Durch das Internet sind wir fernen Ländern und Kulturen nur scheinbar nähergekommen. Langjährige Vor-Ort-Erfahrung und echte Erfahrungsberichte bleiben unersetzbar. Journalist Marcel Grzanna erzählte aus seiner Zeit China; angesichts dessen politischen Aufstiegs auch in Blick in unsere Zukunft?


Der Kipp-Punkt dürfte mittlerweile überschritten sein; China so groß und wirtschaftlich mächtig, dass der alte Westen von ihm mindestens so sehr abhängt wie umgekehrt; eine militärische Parität mit den Amerikanern und eine Verschiebung der Einflussgebiete im Pazifik erscheint sichtbar am historischen Horizont. Wenn je eine Aussicht bestand, durch „Druck“, durch „Macht“ in die inneren Verhältnisse Chinas hineinzuwirken, ist sie Vergangenheit. Protest mag ehrenwert sein; auch Marcel Grzanna fordert westliche Staaten- und Wirtschaftslenker auf, nicht länger die Augen vor dem chinesischen Unterdrückungsapparat zu verschließen und mutiger, hörbarer als bislang ihre Stimmen zu erheben. Allein, wirken wird das wenig. Drohungen klingen hohl und beeindrucken die Führung in Peking nicht mehr sehr. Verändern kann sich der rote Riese nur von innen heraus.


Einblicke in die chinesische Gesellschaft sind darum noch bedeutender geworden. Grzanna, Reporter u. a. für die Süddeutsche Zeitung, hat ein knappes Jahrzehnt mit Frau und Kindern in China gelebt und einen großen Vorrat an Eindrücken und Anekdoten gesammelt. Viele sind düster; Allgegenwart der Repression, mit ständiger Einschüchterung durch die Polizei, die auch vor ausländischen Journalisten lange nicht mehr haltmacht; Allgegenwart der Propaganda, die alle Lebensbereiche umfasst, da in dem zentralistisch verwalteten Großreich noch der kleinste Verwaltungsakt mit Partei und Staat verbunden wird, jede Kritik, wenn nicht unterdrückt, doch so gelenkt werden muss, dass die oberste Führung von ihr unberührt bleibt. Der Apparat ist intakt und durch die Corona-Pandemie, in der sich das späte, dann aber entschlossene Durchgreifen Pekings bewährte, eher noch gestärkt worden.


Wertvoll sind Grzannas Schilderungen der immer noch riesigen Wohlstandsunterschiede zwischen den wachsenden Metropolen und dem flachen Land. Ein Großteil der chinesischen Bevölkerung ist noch lange nicht ökonomisch saturiert; das Wachstumsversprechen der Parteiführung und das solide Funktionieren des gelenkten Staatskapitalismus weiterhin eine lockende Verheißung. Gegenüber der maroden Sowjetwirtschaft klang „Wandel durch Handel“ nach einer erfolgversprechenden Strategie; die Chinesen aber halten ihr Modell für wettbewerbsfähig, was ihr erstaunliches wirtschaftliches Aufholen in den letzten vierzig Jahren eindrucksvoll belegt. So dass in einigen Jahren die Frage eher lauten könnte, in welche Richtung denn ein Wandel stattfindet. In Südosteuropa konkurrieren chinesische Investitionen schon offen mit den Förderprogrammen der Europäischen Union.


Nicht in zu große strategische Abhängigkeit von China zu geraten dürfte daher eine Hauptsorge westlicher Politik in den kommenden Jahrzehnten werden. Die innere Entwicklung im Reich der Mitte bleibt einstweilen abzuwarten. Grzanna beschreibt eine dynamische, bunte, vielfältige Gesellschaft, jedoch mit starkem Hang zu sozialer Harmonie und Konformität, bei zugleich hart angesetzten Bandagen im wirtschaftlichen Wettbewerb. Die neuen Möglichkeiten des digitalen Zeitalters, mehr Vernetzung, offener artikulierte Kritik, zugleich verstärkte Überwachung, bieten verschiedene denkbare Entwicklungspfade, ebenso das Bestreben der Parteiführung, in bestimmten Wirtschaftsbereichen nicht mehr nur Werkbank, sondern Technologieführer zu werden, Wissen selbst zu schaffen statt zu importieren, was ein gewisses Maß geistiger Freiheit voraussetzt, zugleich die Anziehungskraft des chinesischen Modells erhöht. Im einen wie im anderen Fall werden wir nicht mehr sein können, als was Marcel Grzanna jahrelang war: interessierter Zuschauer eines welthistorischen Prozesses.


Zum Weiterlesen: Buchpublikation des Referenten

Eine Gesellschaft in Unfreiheit (2020). Erlebnisberichte aus neun Jahren in China.




Die Grünen jetzt schon an der Macht?

Vortrag von Ansgar Graw, 10. November 2020

 

Eine grüne Regierungsbeteiligung nach der anstehenden Bundestagswahl wird allenthalben erwartet – je nach Umfrageinstitut als Junior- oder gar als Seniorpartner. Was hätte die Republik davon zu erwarten, erhoffen oder befürchten? Ansgar Graw zog eine Bilanz bisheriger grüner Politik.

 

Der föderale Aufbau des deutschen Bundestaates bringt es mit sich, dass Parteien, wenn sie einmal Teil des akzeptierten Systems geworden sind, nur selten völlig in die Opposition gehen. Regierungsbeteiligungen bleiben in Kommunen, Kreisen und Ländern, Mitwirkung über den Bundesrat im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung, wo Enthaltungen wie Neinstimmen wirken und auch kleine Koalitionspartner in Länderregierungen daher oft für Mehrheiten gewonnen werden müssen. Insofern waren die Grünen, obwohl seit 2005 an keiner Bundesregierung mehr beteiligt, nie wirklich fort von der Macht. Hinzu kommt in ihrem Fall, dass sie es auch bei bescheidenen Wahlergebnissen stets geschafft haben, erfolgreich „Zukunft“, „Zeitgeist“ zu verkörpern, ihre Themen zu platzieren und die Meinungsführerschaft mindestens in der veröffentlichten Meinung zu erringen, so dass andere Parteien sich oft genötigt sehen, auch ohne Grüne eine grüne Politik zu betreiben.

 

Ansgar Graw, Herausgeber des EUROPEAN, früher Chefreporter für die WELT, erwartet daher keine Revolution, nur mehr vom Gleichen, wenn, was viele erwarten, die nächste Bundesregierung zu größeren oder kleineren Teilen die grüne Farbe tragen wird. Ohnehin ständiger Beobachter des Berliner Betriebs, hat er für sein Buch viele aktive Politiker ebenso wie altgrüne Parteiveteranen noch einmal gesprochen. Was er erwartet? Natürlich mehr Ökologie, im Sinne klimaschützender Staatswirtschaft, bleibende Distanz zu Märkten und Unternehmertum; weiter Politik aus hohem moralischem Anspruch, die gegen „Skeptiker“, „Abweichler“ gelegentlich zur Unduldsamkeit neigt; weitere Reglementierung des Konsums durch staatliche Verbote, der Sprache durch sozialen Druck. Die lange Liste möglicher Verbote, die Graw gerne zitiert, mag kürzer werden im politischen Alltag, wenn sich hier und da Widerstand erhebt; die Grundrichtung, sagt er, wird bleiben.

 

Freilich widerspricht er auch Dämonisierungstendenzen, die aus anderen politischen Lagern kommen. Gerade Grünenpolitiker seien im Netz oft Opfer von Fake-News, falschen Zitaten, manipulierten Bildern; und auch mancher tatsächlich gefallene Satz, der Jahre später immer wieder hervorgekramt wird, ist nicht mehr der letzte Stand von Programm und politischem Denken. Dass er mit Deutschland und Patriotismus wenig anfangen könne, hat Robert Habeck wirklich einmal geschrieben; im Gespräch freilich durchblicken lassen, dass er es heute so nicht mehr schreiben würde; und in vielem, sprachlich wie faktisch, hat er sich dem bürgerlichen Lager sichtbar angenähert. Die Grünen sind im Kommen, meint Graw, aber eigentlich schon da. Der Weltuntergang, er droht ohne Grüne nicht, und mit Grünen daher wohl auch nicht.

 

Zum Weiterlesen: Buchpublikation des Referenten

·        Die Grünen an der Macht: Eine kritische Bilanz (2020)

Share by: